Über das Leben von Sidonie Heigl geb. Stern
Alexander und Mathilde Stern wurden sieben Kinder geboren, darunter drei Töchter: Sophie, Flora und Sidonie. Die Töchter hatten unterschiedliche Schicksale: Während Flora in die USA auswanderte und so ihr Leben rettete, wurde Sophie ein Opfer des Holocaust, sie wurde nach Auschwitz deportiert. Sidonie verblieb in Deutschland und überlebte hier die NS-Zeit. Sie überlebte, weil sie seit Dezember 1934 mit dem aus Dillenburg stammenden Protestanten Willy Heigl verheiratet war. Diese Ehe galt seit dem Erlass der Nürnberger Gesetze (1935) als so genannte „Mischehe“. Die Teilnehmer der so genannten „Wannsee-Konferenz“ (1942) hatten sich darauf verständigt, dass die jüdischen Partner solcher „Mischehen“ (zunächst) nicht deportiert werden sollten.
Willy Heigl, Mitglied der SPD, wurde 1933 aus seiner Stelle als Leiter der Kanzlei der Staatsanwaltschaft Limburg entlassen. Seine Wiedereinstellung bei der Firma Krupp verhinderte der damalige NSDAP-Kreisleiter, so blieb Heigl etwa anderthalb Jahre arbeitslos. Im Dezember 1904 heiratete er Sidonie Stern, die am 8. Februar 1906 als sechstes Kind der Eheleute Alexander und Mathilde Stern geboren worden war.
Das Ehepaar Heigl war im Alltag der gesamten NS-Zeit zahllosen Drangsalierungen, Schikanen, Demütigungen und Bedrohungen schutzlos ausgesetzt. Im November 1945 berichtete Heigl in einem Brief an den Weilburger Polizeikommandanten über ihr gemeinsames Schicksal: „Da eine Beschäftigung nur in einer Großstadt zu finden war, nahm ich eine Stelle als Verlagssekretär einer Fachzeitschrift in Frankfurt/Main an … Zu Beginn des Krieges wurde die Zeitschrift an einen Berliner Verlag verkauft. Ich trat zu einem anderen Verlag über; nachdem das Vorhandensein der jüdischen Ehefrau im Betrieb bekannt wurde, wurde ich … von der Lehrlingsausbildung ausgeschlossen. Im Zuge der Zusammenpferchung der in Mischehe lebenden Personen hatte ich in den letzten Jahren nur ein Zimmer bekommen. Nach meinem totalen Bombenschaden im März 1944 erhielt ich nach vielen Eingaben und Vorsprachen von der Gestapo die Genehmigung, mit meiner Frau nach Butzbach zu verziehen. Ich habe in Butzbach von April 1944 bis Januar 1945 in einer kleinen Werkstatt, die als Zimmer hergerichtet war, gewohnt. Es war Küche, Schlaf- und Wohnzimmer in einem, nur mit einem Bett. Der Wohnungsinhaber setzte uns im Februar aus der Wohnung … Ich habe dann wochenlang auf einer Bank im Betrieb geschlafen, und meine Frau ist bei Bekannten untergekrochen.“
Heigl erwähnt in seinem Bericht nicht, dass er während des Krieges mit seiner Frau für kurze Zeit bei seiner Schwester Emmi in Weilburg Aufnahme gefunden hat. Nachdem das Ehepaar Heigl in Frankfurt ausgebombt worden war, kam es vermutlich für einige Wochen bei der Familie Dittrich – Frau Emmi Dittrich war eine Schwester Heigls – in Weilburg, im Haus Marktplatz 1, unter, hielt sich hier versteckt und ging dann anscheinend (wieder) nach Butzbach zurück. In seiner Begleitung befand sich noch ein anderes Ehepaar, das Ehepaar Möhnle, ebenfalls eine „Mischehe“. Das Ehepaar Möhnle fand Aufnahme bei der Familie Wehrum (Weilstraße), Frau Erna Wehrum war auch eine Schwester Heigls.
Diesen Sachverhalt bestätigte eine Nichte Heigls im September 2008 nachdrücklich gegenüber dem Verfasser. Wie lange sich die Heigls und die Möhnles in Weilburg aufhielten, warum sie überhaupt nach Weilburg kamen und damit sich selbst und die Familien Dittrich und Wehrum einer erheblichen Gefahr aussetzten, ist weiterhin ungeklärt.
Dass sich das Ehepaar Heigl – zusammen mit dem Ehepaar Möhnle - nach seiner Ausbombung in Frankfurt nach Butzbach orientierte, hatte wahrscheinlich „verwandtschaftliche“ Gründe. In Butzbach lebte der Schwiegervater von Heigls Schwester, Rudolf Dittrich, den Heigl bereits von Weilburg her kannte.
Ende Februar/Anfang März 1945 überschlugen sich dann in Butzbach die Ereignisse: Es wurde bekannt, dass die jüdischen Ehefrauen aus „Mischehen“ noch nach Theresienstadt deportiert werden sollen, die „arischen“ Ehemänner sollen zu Rüstungsbetrieben in Nordhausen (Harz) abtransportiert werden. Dies hätte für die Frauen (und vermutlich auch für die Männer) den sicheren Tod bedeutet.
Die Ehepaare Möhnle und Heigl entschlossenen sich, diesem Schicksal durch Flucht zu entgehen; die Flucht hatten sie seit langem geplant und vorbereitet. „Wir wollten versuchen, koste es, was es wolle, unser Leben zu retten, und wir waren entschlossen, es so teuer wie nur möglich zu verkaufen“, so Heigl nach dem Krieg.
Am 15. März 1945 sollte der letzte Transport von Frankfurt aus abgehen. Da sich die Front Frankfurt aber schnell näherte, war nicht auszuschließen, dass der Deportationstermin vorverlegt werden könnte. So brachen die beiden Ehepaare bereits am 7. März auf, etwas Proviant und etwas Wäsche verstauten sie in vier Rucksäcken.
Ihre Flucht ging in Richtung Westen, der Front entgegen. Ständig waren sie in Gefahr, von Kommandos der Wehrmacht oder der SS aufgegriffen und erschossen zu werden; so nahmen sie ihren Weg abseits der Dörfer durch Wälder, hielten sich verborgen in Scheunen, in Bunkern und in Abflussröhren.
Während der fast dreiwöchigen Flucht ernährten sie sich nur von Brot und Zucker; unterwegs stießen sie auf zwei Zwangsarbeiter, die einem Transport der SS entkommen waren, und teilten mit diesen ihre schmale Ration.
Als ihre Lage allmählich katastrophal zu werden begann, stießen sie am 25. März 1945 bei Bendorf auf amerikanische Truppen, damit waren sie gerettet. Sidonie Heigl erlitt einen schweren Zusammenbruch und befand sich wochenlang in ärztlicher Behandlung im Krankenhaus von Engers.
Mitte Juli 1945 kehrte das Ehepaar Heigl nach Weilburg zurück, das seit Ende März 1945 Sitz einer amerikanischen Militärregierung war. Der neue, von den Amerikanern eingesetzte Landrat Albert Wagner stellte Heigl als Abteilungsleiter im Landratsamt Weilburg ein. Im Juli 1945 entließen die Amerikaner Theo Oberheitmann aus seinem Amt als Weilburger Bürgermeister (nach nur dreimonatiger Amtszeit) und setzten wenige Wochen später, im August 1945, Heigl als neuen Bürgermeister von Weilburg ein.
In diesem Amt verblieb Heigl bis Ende März 1948 und wechselte dann als Direktor zu den Steedener Kalkwerken über. Bis 1969 leitete er erfolgreich das Steedener Industriewerk und ging dann in den Ruhestand. Kurz danach verließ das Ehepaar Heigl Steeden und zog nach Bad Wiessee (Bayern), hier verstarb Willy Heigl bereits 1974. Am 13.06.1985 starb Sidonie Heigl und wurde auf dem Friedhof von Bad Wiessee neben ihrem Mann beigesetzt.
Sidonie Heigl (Mitte der dreißiger Jahre)
Willy Heigl (dritter von links) als Weilburger Bürgermeister an der Baustelle Ernst-Dienstbach-Steg (1946)
Der Grabstein von Willy und Sidonie Heigl auf dem Friedhof von Bad Wiessee