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Zwei Schulklassen des Gymnasium Philippinum Weilburg

Im Jahr 2021 fand ein außergewöhnliches Unterrichtsprojekt statt, in dessen Mittelpunkt der jüdische Friedhof Weilburg stand. Das Projekt – Initiator: Thorsten Rohde, Lehrer und Fachbereichsleiter am Philippinum – nahm im Juni 2021 seinen Anfang: Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 11 c des GPW reinigten in mühsamer Handarbeit mit Wasser, Lappen und Bürste 15 Grabsteine und machten die Inschriften wieder lesbar. Der zweite Schritt folgte im Oktober 2021. Diesmal reinigten die Schülerinnen und Schüler der gleichen Klasse zehn ausgesuchte Grabsteine, und zwar Grabsteine der Familien Stern, Schwarz, Michel, Bravmann und Julius Bauer. Hierzu wurde die Klasse in verschiedene Arbeitsgruppen eingeteilt. Thorsten Rohde hielt zahlreiche Szenen im Foto fest: die Grabsteine vor und nach der Reinigung sowie die verschiedenen Schülergruppen im Arbeitseinsatz.

Nach den Herbstferien folgte dann eine neue und außergewöhnliche Aufgabe: Jede Gruppe sollte einen Brief schreiben, und zwar an die Nachfahren der Familie, deren Grabsteine die Gruppe gereinigt hatte. In diesem Brief sollten sich die Schüler vorstellen und ihr Projekt beschreiben, und der Brief sollte in einem gewinnenden und kommunikativen Stil abgefasst sein. Dies war eine anspruchsvolle Aufgabenstellung. Der Brief sollte nicht nur in englischer Sprache geschrieben werden, der Brief war auch an eine Person zu richten, von der man nur den Namen kannte.  

Das Formulieren der Briefe nahm deshalb mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich geplant. Schließlich waren die Briefe aber fertig, wobei die Englischlehrerin der Klasse wertvolle Hilfe leistete. Die Briefe wurden, zusammen mit den Fotos, als Emails an insgesamt neun Empfänger versandt. Fünf Emails gingen in die USA und je eine nach Kanada, Israel, Brasilien und Deutschland. Die Adressen der Empfänger stellte ich zur Verfügung. 

Aber wie würden die Nachfahren antworten? Würden sie überhaupt antworten? Schließlich hatten die Schüler die Grabsteine von Personen gereinigt, die alle bereits vor etwa 100 Jahren in Weilburg verstorben waren. Erinnerte man sich in der Familie noch dieser Personen? Wie erinnerte man sich in den Familien der NS-Vergangenheit? Es gab also gewichtige Gründe, skeptisch zu sein. 

Doch das Verhalten der Nachfahren widerlegte alle Skepsis: Alle neun Empfänger beantworteten die Briefe der Weilburger Schüler; innerhalb einer Woche gingen alle Antworten in Weilburg ein, die erste bereits nach einigen Stunden. 

Eine gemeinsame Analyse aller Antworten durch die Klasse 12 c bildete den Abschluss des Projekts förderte bemerkenswerte Erkenntnisse zu Tage: Beeindruckt waren die Schüler von der Freundlichkeit und Offenheit aller Briefe.  

Alle Nachfahren sprachen den Schülern Dank und Anerkennung für ihre Aktionen auf dem Friedhof sowie für ihre Briefe aus. Die symbolische Bedeutung der Aktionen wird von allen Nachfahren hoch eingeschätzt. Arlene Roth (Seattle) bemerkte: „It means a lot to me.” Und Susan Traub aus Florida stellte fest: “The project you undertook is so meaningful to me”. Die Briefe spiegeln aber auch die sich wandelnde Einstellung der Nachfahren zum Deutschland von heute. Die NS-Zeit und der Holocaust bleiben unvergessen, und die Geschehnisse in Deutschland werden von Übersee aus weiter aufmerksam beobachtet, aber diese Themen treten in ihrer Bedeutung gegenüber früher zurück. 

So erwähnte Carter Bravmann aus Los Angeles stolz, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft als zweite Staatsbürgerschaft erworben hat. Talma Knoller aus Tel Aviv schrieb ihren Antwortbrief aus Berlin. Sie besuchte dort ihre beiden Enkeltöchter, die beide in Berlin geboren sind. Talmas einziger Sohn war vor Jahren von Israel nach Berlin ausgewandert und hatte dort eine Familie gegründet. Und Milton Bauer aus Sao Paulo bekannte in deutscher Sprache: „Unsere enge Beziehung zu Deutschland bleibt.“ 

 

Etwa zwei Jahre später, im Juni 2023, nahm eine andere Lerngruppe des Weilburger Gymnasiums wieder Kontakt mit den Nachfahren jüdischer Weilburger auf und beschritt dabei den gleichen Weg wie die Klasse 11 c (12c) zwei Jahre zuvor. Diesmal handelte es sich um die Lerngruppe „Katholische Religion“, Jahrgangsstufe 10, in der die katholischen Schülerinnen und Schüler aller Klassen 10 zusammengefasst waren. Unter der Leitung ihres Lehrers Alexander Struß reinigten die Schülerinnen und Schüler zunächst ausgewählte Grabsteine und versandten dann Briefe an die Nachfahren, den Briefen waren Fotos beigefügt. Die Nachfahren antworteten ebenso prompt wie zwei Jahre zuvor. Auch in diesem zweiten Projekt erprobte und praktizierte die Lerngruppe neue Formen der Begegnung mit jüdischer Geschichte und Gegenwart.

Joachim Warlies