Das Leben von Arthur Gustav (Abraham) Stern
Der nachfolgende Text ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes „Von Weilburg nach Petach Tikva“, der 2015 in der Festschrift „Spurensuche“ des Gymnasium Philippinum Weilburg veröffentlicht wurde.
WEILBURG
Den Eheleuten Alexander und Mathilde Stern wurde am 29. September 1897 in ihrem Haus in der Niedergasse 7 als erstes Kind ein Sohn geboren, der die Vornamen Arthur Gustav erhielt. Arthur war sein Rufname. In späteren Akten wurde sein Vorname teilweise ohne „h“ geschrieben, zum Beispiel in seinem Reifezeugnis.
Die Lebenswelt des jungen Arthur war nicht nur das enge und kleine Elternhaus in der Niedergasse, sondern auch das Weilburg um die Jahrhundertwende: seit 1867 Kreisstadt des ländlich strukturierten Oberlahnkreises, mit etwa 4000 Einwohnern, eine Stadt des Mittelstandes, mit Beamten und Angestellten, mit zahlreichen Handwerksbetrieben und vielen kleineren und größeren Einzelhandelsgeschäften. Das Futtermittelgeschäft des Alexander Stern war eines davon.
1910 hatte Weilburg 4002 Einwohner, davon waren 3316 evangelisch und 565 katholisch, die jüdische Gemeinde zählte 119 Mitglieder. Weilburg war bis 1924 Dienst- und Wohnsitz eines so genannten Bezirksrabbiners. In dieser kleinen, überschaubaren Weilburger Welt wuchs Arthur auf, in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, die sich rasch vergrößerte. Nach vier Jahren in der Volksschule Weilburg besuchte Arthur ab April 1907 das Gymnasium Philippinum Weilburg und bestand im Dezember 1916 die „sechste Not-Reifeprüfung“, zusammen mit seinem Mitschüler Kurt Lehr. Beide waren zu dieser „Not-Reifeprüfung“ kurzfristig zugelassen worden, nachdem sie eine Einberufung zum Heer erhalten hatten. Am 23. Dezember 1916 bestanden beide die Prüfung, und schon am 28. Dezember 1916 rückten beide Abiturienten zum Heer ein.
STUDIUM, PROMOTION
Über Sterns Kriegsdienst ist nichts überliefert: Weder ist bekannt, wo er stationiert bzw. eingesetzt war, noch, ob er verwundet wurde, und wann er aus dem Heer entlassen wurde. Seine Entlassung aus dem Militärdienst erfolgte anscheinend bereits einige Monate vor Ende des Krieges, denn er nahm noch während des Krieges das Studium der Medizin an der Universität Gießen auf.
In Gießen absolvierte er das Sommersemester 1918, das Wintersemester 1918/19 sowie das Sommersemester 1919. Neben diesen drei „regulären“ Semestern wurde ihm ein so genanntes „Kriegsnotsemester“ im Frühjahr 1919 als weiteres Semester angerechnet. Danach wechselte er für zwei Semester (WS 1919/20 und SS 1920) zur Universität Frankfurt/Main über und kehrte dann noch einmal für ein Semester (WS 1920/21) an die Universität Gießen zurück. Im Sommersemester 1921 war er Student an der Universität München. Im Oktober 1921 immatrikulierte er sich dann an der Universität Breslau, die er im August 1922 wieder verließ. Die folgenden Monate liegen im Dunklen. Die Gründe für die häufigen Wechsel des Studienortes sind unbekannt. Entgegen einer weit verbreiteten Überlieferung war Stern aber nicht Student der Universität Marburg, sein Name erscheint nicht in den entsprechenden Verzeichnissen der Universität Marburg.
Aber seit Februar 1923 war er nachweislich in Marburg wohnhaft und verließ Marburg erst wieder im Januar 1924, um nach Breslau zurückzukehren. Er war vermutlich 1923/24 als Assistenzarzt bzw. Doktorand an der Marburger Universitätskinderklinik tätig, und zwar im Rahmen einer Kooperation zwischen den Universitäten Marburg und Breslau, und erarbeitete in dieser Zeit seine Dissertation, die er 1924 an der Universität Breslau vorlegte. Seine Dissertationsschrift trägt den Titel „Versuche über die Pufferung von Frauen- und Kuhmilch innerhalb der verdauungsphysiologischen Säuregrade“.
TÄTIGKEIT ALS ARZT, NIEDERLASSUNG IN GOTHA (THÜRINGEN)
Im Jahr 1924 wurde Dr. med. Arthur Stern auch als Arzt approbiert und trat am 1. April 1924 seine erste Stelle als Arzt an der Universitätskinderklinik Jena an, diese Stelle bekleidete er bis zum 31. Oktober 1925. Über seine berufliche Tätigkeit in den nachfolgenden Monaten ist nichts bekannt.
Dann ließ er sich im thüringischen Gotha nieder und eröffnete hier eine Praxis als Kinderarzt, bis zum Frühjahr 1933 war Gotha sein neuer Lebensmittelpunkt. Es ist unbekannt, wann er seinen Wohnsitz in Gotha nahm. Im Adressbuch der Stadt Gotha (gedrucktes Einwohnerverzeichnis) erscheint der Kinderarzt Dr. Arthur Stern erstmalig im Jahre 1927 unter der Adresse Hindenburgstraße 2 (heute Bahnhofstraße). Die letzte Eintragung datiert von 1932 (Gartenstraße 32 b).
Seine Wahl war wohl vor allem aus wirtschaftlichen Gründen auf Gotha gefallen: Neben ihm gab es nur noch einen Kinderarzt in Gotha, das damals mehr als 40000 Einwohner zählte. In Gotha war Stern bald ein bekannter und angesehener und wohlhabender Kinderarzt.
Schon vor der Niederlassung in Gotha hatte er die aus Breslau stammende Ilse Alice Kober geheiratet, die er wohl während seines Studiums in Breslau kennen gelernt hatte. Die Hochzeit fand vermutlich auch in Breslau statt, das Jahr der Eheschließung ist unbekannt.
Dem Paar wurden vier Kinder geboren: Miriam (1925), Chava (1928), Rachel (1930) und Gideon (1932). Die Namensgebung für die Kinder spiegelt die jüdische Einstellung der Eltern. Die Tochter Chava berichtete im Jahr 2014, ihre Eltern seien keine frommen Juden gewesen. Aber ihr Vater sei Anhänger der zionistischen Bewegung gewesen, und zwar schon als junger Student. So sei er bereits in den zwanziger Jahren einmal mit einem Kommilitonen in den Libanon gereist und habe dabei Baalbek besucht. Als Student in München wurde er Mitglied der jüdisch-zionistischen Studentenverbindung VJSt Jordania, die dem „Kartell Jüdischer Verbindungen“ (KJV) angehörte. Es überrascht deshalb auch nicht, dass sich Stern innerhalb der jüdischen Gemeinde Gotha aktiv betätigte: 1928 war er Kandidat der Zionisten der Israelitischen Kultusgemeinde, und 1932 wurde er Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Gotha.
ANTISEMITISCHE KAMPAGNE, FLUCHT UND EMIGRATION
Das Jahr 1933 war der Wendepunkt im Leben der Gothaer Juden, bereits während des Jahres 1933 verringerte sich ihre Zahl durch Auswanderung und Abwanderung erheblich. Auch für die Familie Stern veränderte sich die Lage bald dramatisch. Den Tod eines Kindes im Frühjahr 1933, das bei Stern in Behandlung gewesen war, nahmen die Gothaer Nationalsozialisten zum Anlass für eine laute und schmutzige Kampagne: Sie beschuldigten Stern in der „Gothaer Staatszeitung“, für den Tod des Kindes verantwortlich zu sein.
Am 8. April 1933 erließ die Staatsanwaltschaft Gotha einen Haftbefehl gegen Stern „wegen fahrlässiger Tötung“, Sterns Immobilien und Vermögen wurden konfisziert und seine Bankkonten gesperrt. Der Haftbefehl konnte aber nicht vollstreckt werden, da Stern einen Hinweis auf die bevorstehende Verhaftung erhalten hatte – von einer nichtjüdischen Patientin – und abgetaucht war. Stern flüchtete aus Deutschland, zunächst nach Italien, und von dort per Schiff nach Palästina.
Seine Ehefrau blieb mit den vier kleinen Kindern in Gotha zurück und traf hier alle Vorbereitungen für die Emigration nach Palästina. Sie verkaufte Teile des Hausrats und sorgte dafür, dass andere Teile des Hausrats nach Palästina geschafft wurden. Zum Beispiel das Behandlungszimmer und das „Herrenzimmer“ sowie das Auto. Danach, noch im Jahr 1933, verließen Ilse Alice Stern und ihre Kinder Miriam, Chava, Rachel und Gideon Gotha und gelangten auch per Schiff nach Palästina. In Petach Tikva, nahe Tel Aviv gelegen, traf die Familie Stern wieder zusammen.
NEUANFANG IN PETACH TIKVA
Petach Tikva zählt heute knapp 170000 Einwohner, das Petach Tikva von 1933 war von anderer „Qualität“. Noch 2014 konnte sich die damals 86-jährige Chava an ihre ersten Eindrücke erinnern: „Es war ein Schock! Wir kamen aus einem kultivierten Land, und was fanden wir hier? Ein Dorf, drei Straßen, nur Sand und Orangen.“ So dauerte es Jahre, bis sich die Familie Stern in dieser neuen Welt einigermaßen eingelebt hatte.
Zunächst stand die Bewältigung praktischer Probleme im Vordergrund. Da Arthur Stern nicht sicher sein konnte, ob er in Palästina wieder als Arzt würde arbeiten können, hatte er sich innerlich bereits darauf eingestellt, künftig als Taxi-fahrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Deswegen hatte er sich sein geräumiges Arztauto aus Deutschland nachkommen lassen, um es in Palästina für den Taxidienst verwenden zu können. Jetzt zeigte sich, dass Petach Tikva kein Markt für Taxis war. Denn es gab keine Straßen, nur eine Straße nach Tel Aviv. Deswegen verkaufte Stern bald sein Auto.
Eine erste Arbeit fand er bei einer Krankenkasse, die ihn als angestellten Arzt beschäftigte. Aber die streng regulierte Arbeit sagte ihm bald nicht mehr zu, und er entschloss sich etwa Mitte der dreißiger Jahre, sich wieder selbständig zu machen und eine eigene Arztpraxis zu eröffnen, wieder als Kinderarzt, wie schon in Gotha. Diese Entscheidung erwies sich als richtungsweisend für sein gesamtes weiteres Leben in Palästina (Israel): Er blieb bis zu seinem Lebensende (1966) Kinderarzt in Petach Tikva.
Die Anfänge dieser zweiten Karriere gestalteten sich allerdings zunächst mühsam. Die ersten Hausbesuche seiner jungen Patienten bewältigte Stern mit dem Fahrrad, dann konnte er sich ein Motorrad leisten, bis schließlich der Kauf des ersten Autos in Palästina möglich wurde, eines kleinen Fiats.
Zur neuen Heimat gehörte auch eine neue Sprache, das Hebräisch. Während die vier Kinder in Petach Tikva die Schule besuchten und dabei ihre neue Muttersprache fast mühelos erlernten, war für ihre Eltern das unverzichtbare Erlernen des Hebräischen weitaus schwieriger. Im vertrauten Kreis der Familie sprachen die Sterns weiterhin deutsch, aber außerhalb des Hauses wechselten sie zum Hebräischen über.
Im Jahre 1938 „vergrößerte“ sich die Familie Stern: Mathilde Stern, mittlerweile 72 Jahre alt, emigrierte aus Deutschland und fand Aufnahme im Haus ihres Sohnes Arthur. Hier lebte sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1948. Auch die Eltern von Ilse Alice Stern emigrierten in den dreißiger Jahren aus Breslau nach Palästina und ließen sich zunächst in Pardes Hanna-Karkur nieder. In ihren letzten Lebensjahren fanden sie dann ebenfalls Aufnahme im Hause Stern.
AUSBLICK UND SCHLUSS
Arthur Stern wurde ein überaus angesehener und bekannter Kinderarzt, dessen Ruf bald weit über die Grenzen von Petach Tikva hinausging. Seine Patienten kamen aus ganz Israel, noch Jahre nach seinem Tod (1966) erreichten Telefonanrufe das Haus Stern: Man wollte Termine mit Dr. Stern vereinbaren.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Kinderarzt galt sein besonderes ehrenamtliches Engagement neuen Einwanderern. Er hielt Vorträge, organisierte zahlreiche Veranstaltungen und kümmerte sich engagiert über viele Jahre um die neuen Mitbürger Petach Tikvas. Für mehrere Jahre war er auch Mitglied des Stadtrats von Petach Tikva.
In den fünfziger Jahren – viele Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland – unternahm Stern mit seiner Familie eine erste Europareise. Eines seiner Ziele war Weilburg, seine Geburtsstadt, die er seiner Familie zeigen wollte. Dazu den jüdischen Friedhof, auf dem sein Vater Alexander 1930 beerdigt wurde. Auch ein Besuch seiner Schwester Sidonie Heigl stand auf dem Programm, diese wohnte damals in Steeden, einem kleinen Dorf in der Nähe von Limburg.
Seit diesem ersten Besuch kam er regelmäßig nach Deutschland, um hier Urlaub zu machen.
Am 3. April 1966 starb Stern und wurde auf dem Friedhof von Petach Tikva beerdigt, das ihm – nach Weilburg und Gotha – für mehr als drei Jahrzehnte eine neue Heimat war.
Seine Ehefrau Ilse Alice überlebte ihn um drei Jahrzehnte und starb 1997, fast hundertjährig. Auf ihrem gemeinsamen Grabstein erscheinen seine Vornamen Arthur Gustav nicht mehr, sondern stattdessen Abraham: Schon bald nach seiner Ankunft in Palästina hatte Stern seine bisherigen „deutschen“ Vornamen Arthur Gustav abgelegt und einen neuen „jüdischen“ Vornamen angenommen: Abraham.
Athur Gustav Stern als Student in München (1921)
Abraham Stern, dritter von rechts, im Kreise seiner Familie (Anfang der sechziger Jahre)
Ilse Alice Stern mit ihren Töchtern Miriam und Chava in Gotha (1931)
Artikel in der Gothaer Staatszeitung vom 07.04.1933 über den "gewissenlosen Judenarzt" Dr. Stern
Kinderarzt Dr. Abraham Stern in Israel
Abraham Stern (links) mit Familie und Freunden in Palästina (dreißiger Jahre)
Familienleben in Petach Tikva (Chanukka, Dezember 1963): Abraham Stern, Chava Barabash und Kinder