Skip to main content Skip to page footer

Zur Geschichte der Eheleute Simon und der Eheleute Falk

Jakob Erich Simon aus Weyer lernte Ilse Falk, einzige Tochter von Max und Ida Falk, in einem jüdischen Jugendbund kennen. Nach der Hochzeit im Jahre 1935 lebte das junge Paar bei den Schwiegereltern, und Simon wurde Teilhaber in der Firma seines Schwiegervaters. Falk betrieb seit vielen Jahren ein gut gehendes Schuhwarengeschäft. Daneben lieferten Falk und Simon als Reisende Leder- und Schuhbedarfsartikel an kleinere Schuhfabriken und Firmen links und rechts des Rheins und der Mosel.

Während des Novemberpogroms 1938 hielt sich Simon in Frankfurt/Main auf, wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht, hier war er bis zum 5. Dezember 1938 inhaftiert.

Die Niedergasse bot am 10. November 1938 ein Bild der Verwüstung: Die Schaufensterscheiben des Geschäfts Arnstein/Wallach waren zertrümmert worden. Glassplitter, Schaufenster- und Ladeninhalt sowie Teile der Wohnungseinrichtung bedeckten die Straße, auch auf dem rückwärtigen Hof lagen verstreut aufgeschnittene Betten und Möbelstücke. Adolf Wallach wurde ein Kronleuchter auf den Kopf geschlagen, er erlitt eine schwere Kopfverletzung. Auch bei der Familie Falk im Haus Niedergasse 6 wurde ebenfalls die Wohnungseinrichtung zertrümmert, die Täter stürzten Teile des Mobiliars in die Niedergasse und auf den rückwärtigen Teil des Anwesens. Max Falk wurde mit einem Tintenlöscher aus Marmor zu Boden geschlagen.

Am 12. November 1938 wurden Adolf Wallach und Max Falk in Weilburg von Weilburger Polizeibeamten verhaftet, dann nach Frankfurt/Main überführt und dort der Gestapo übergeben. Von Frankfurt wurden sie beide in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, sie blieben Häftlinge in Buchenwald bis zum 14. Dezember 1938.

Jakob Erich Simon wurde aus Dachau entlassen, nachdem er seinen Bewachern eine Schiffskarte nach Schanghai vorweisen konnte, die seine Frau ihm gekauft hatte. Ihm fehlte aber ein Visum, um auswandern zu können. So kehrte er wieder nach Weilburg zurück, um von hier aus seine Auswanderung und die seiner Frau und die seiner Schwiegereltern weiter zu betreiben.

Zunächst schien alles den geplanten Verlauf zu nehmen. Dann aber überschlugen sich in Weilburg die Ereignisse. Simon berichtete 1988 in einem Brief über die damaligen dramatischen Stunden: „Eines Tages kam ein Wachtmeister in Zivil an unsere Tür und sagte zu meiner Schwiegermutter, Frau Falk: Ihr Schwiegersohn ist nicht hier? Sollten Sie ihn irgendwo erreichen können, sagen Sie ihm bitte, dass ich einen Befehl habe, ihn wieder nach Dachau zu bringen, und ich muss den Befehl ausführen. Heute bin ich privat hier, morgen früh um neun Uhr komme ich dienstlich und muss den Befehl ausführen.“

Simon verstand den versteckten Hinweis, noch in der gleichen Nacht verließ er Weilburg und fuhr mit seiner Frau nach Frankfurt/Main. Von hier flüchtete Simon allein über die „grüne Grenze“ nach Frankreich, von wo aus er per Schiff nach Südamerika gelangte. Seine Frau blieb zurück, sie wollte ihre Eltern nicht im Stich lassen und mit diesen später – nach Erhalt des beantragten Visums – nach Brasilien nachkommen.

Ende Juli 1939 befand sich Simon in Bolivien und wollte von dort Frau und Schwiegereltern nachkommen lassen. Wenige Wochen später brach der Krieg aus, eine Ausreise aus Deutschland wurde dadurch faktisch unmöglich. In Bolivien wurde Simon drei Monate von einem jüdischen Hilfsverein unterstützt, danach emigrierte er nach Brasilien, wo bereits seine Eltern sowie seine Schwester Herta mit ihrer Familie lebten. Hier schlug er sich zunächst in verschiedenen Berufen durch, u. a. als Mechaniker und Dekorateur. Zwei Jahre arbeitete er auch als Autowäscher in einer Garage.

 

Was war derweil in Europa geschehen? Anfang 1940 hatte Max Falk sein Haus verkauft und war mit Frau und Tochter – zusammen mit den anderen Weilburger Juden – nach Frankfurt/Main gezogen. Hier wurde die Familie Falk in das Haus Bäckerweg 60 einquartiert.

Bereits im Herbst 1941 wurden die ersten Frankfurter Juden in mehreren Transporten nach dem Osten Europas deportiert, u. a. am 22. November 1941 nach Kowno (Kaunas). Unter den fast tausend Deportierten dieses Transports befanden sich auch die Eheleute Falk und ihre Tochter Ilse. Ursprünglich sollte dieser Transport nach Riga gebracht werden, doch wurde er wegen Überfüllung des dortigen Ghettos in die litauische Stadt Kowno (Kaunas) umgeleitet, wo der Zug am 24. November 1941 eintraf. Etwa zeitgleich mit den Frankfurtern waren auch Deportierte aus Berlin und München angekommen, von denen die Frankfurter jedoch abgesondert wurden. Die Verschleppten verbrachten die Nacht im Fort IX, einem ehemaligen Festungsring, am Rande von Kowno gelegen. Man sagte ihnen, sie würden im Ghetto Kowno angesiedelt. Außerhalb der hohen Mauern des Forts, für die Angekommenen nicht sichtbar, waren aber bereits Gruben von russischen Kriegsgefangenen ausgehoben worden.

Am 25. November 1941 zwangen die Bewacher die Gefangenen in Gruppen von etwa 80 Personen zu einer Art Frühsportübung. Danach begannen sie, die Gefangenen im Dauerlauf nach draußen zu den Gruben an der Mauer zu treiben. Als diese auseinander zu laufen begannen, prügelte man sie in die Gruben hinein. Plötzlich eröffneten Schützen, die in den bewaldeten Hügeln oberhalb der Gruben versteckt waren, das Feuer aus Maschinengewehren. Keiner der aus Frankfurt Verschleppten entging diesem Massaker des Einsatzkommandos 3, dem auch die aus München und Berlin Deportierten sämtlich zum Opfer fielen. Während litauische Juden sich vor der Exekution ausziehen mussten, wurden die Juden aus Deutschland bekleidet erschossen. Man trieb die Menschen in die Gruben hinein und zwang sie, sich hinzulegen. Dann wurde auf sie geschossen. Ohne Kontrolle, ob die Opfer tatsächlich tot waren, wurden die Gruben zugeschüttet. Leicht oder gar nicht Verletzte wurden lebendig begraben. Zu den Opfern des Massakers am 25. November 1941 gehörten auch Max und Ida Falk sowie ihre Tochter Ilse Simon geb. Falk.

 

Jahrzehntelang war Simon im Glauben, seine Ehefrau und seine Schwiegereltern seien in Gaskammern ermordet worden, denn er hatte nach dem Krieg entsprechende Auskünfte aus Europa erhalten. Erst im Dezember 1988 (!) erfuhr Simon, wo seine Angehörigen tatsächlich zu Tode gekommen waren. Die grausigen Details des Massakers vom 25. November 1941 hat er dagegen bis zu seinem Lebensende (2003) nicht erfahren.

Die Ausplünderung Max Falks durch das (Groß-)Deutsche Reich

Es ist nur wenig bekannt, dass die legalisierte Ausplünderung der Juden ein wesentlicher Bestandteil der Judenpolitik des Dritten Reiches war. Deren Opfer waren alle Juden, die ausgewanderten ebenso wie die deportierten. Auch Max Falk war ein Opfer dieser Ausplünderung, die nachfolgend detailliert beschrieben wird:

Nachdem amtlich bekannt war, dass das Ehepaar Falk zusammen mit Tochter und Schwiegersohn nach Brasilien auswandern wollte, erließ die Devisenstelle Frankfurt, Abteilung S, am 27. Juni 1939 eine „endgültige Sicherungsanordnung“ gegen Max Falk. Die Devisenstelle legte eine Akte für Max Falk an.

Falk durfte ab sofort nicht mehr frei über seine Bankkonten bei der Kreissparkasse Weilburg und beim Postscheckamt Frankfurt verfügen. Wollte er z. B. Überweisungen zur Begleichung von Rechnungen tätigen, musste er diese über die Kreissparkasse bei der Devisenstelle beantragen. Erst nach Zustimmung der Devisenstelle durfte die Kreissparkasse die Überweisungen tätigen.

Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, wurde Falk gestattet, einen monatlichen „Freibetrag“ von 250 RM ohne Antrag von seinem Konto abzuheben. Auf Falks Einspruch wurde dieser Betrag auf 350 RM angehoben. Bei der Kreissparkasse Weilburg wurde ein „Sicherungskonto“ Nr. 355 angelegt, auf das die Devisenstelle und das Finanzamt jederzeit zugreifen konnte. Auch als das Ehepaar Falk im März 1940 nach Frankfurt umgezogen war, wurde dieses Konto beibehalten.

Über dieses Konto wurde auch der Verkauf des Hauses Niedergasse 6 abgewickelt. Mit Kaufvertrag vom 3. April 1940 verkaufte Falk das Haus zum Preis von 30000 RM. Der Landrat des Oberlahnkreises setzte den ausgehandelten Verkaufspreis „auf die Höhe des Verkehrswertes“, nämlich 27050 RM, herab. Folgende Beträge wurden u. a. von diesem Konto überwiesen: 6500 RM Judenvermögensabgabe, die vom Finanzamt Weilburg festgesetzt worden waren, sowie 1764,88 RM „Wertzuwachssteuer“ an das Landratsamt Weilburg.

Nachdem am 25. November 1941 bei Kowno alle deportierten Juden erschossen worden waren, übersandte die Gestapo Frankfurt wenig später der Devisenstelle Frankfurt eine Liste mit den Namen der Deportierten. Für die weitere Abwicklung der Angelegenheit, für das „Vermögen von nach dem Osten evakuierten Juden“, war zunächst die Devisenstelle zuständig. Die Devisenstelle teilte der Kreissparkasse Weilburg mit, dass das Vermögen von Max und Ida Falk „zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen ist“. In der Devisenstelle wurde auf dem Deckblatt der Akte von Max Falk sowie in der entsprechenden Karteikarte der Vermerk „evakuiert“ eingetragen. Durch die „Evakuierung“ war die Sicherungsanordnung „erledigt“, die Akte konnte weggelegt werden. Für die Devisenstelle war damit der „Vorgang Max Falk“ abgeschlossen.

Auf Anordnung des zuständigen Finanzamtes Frankfurt wurde das Konto Nr. 355 bei der Kreissparkasse Weilburg am 28. April 1942 gelöscht und der Restbestand von 2626,55 RM an das Finanzamt Frankfurt überwiesen

Besuche in Deutschland

In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte weitgehend „Funkstille“ zwischen Weilburg und den emigrierten Juden, und die wenigen Kontakte vollzogen sich ausschließlich auf dem Postweg. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass es zu den ersten Besuchen von Emigranten erst in den fünfziger Jahren kam. Nach dem heutigen Wissensstand besuchte 1950 als erster Emigrant Ludwig Schwarz, Jahrgang 1914, seine Geburtsstadt Weilburg. Ihm folgte, vermutlich im Jahre 1953, Arthur Gustav Stern, geboren 1897 in Weilburg. Über die Dauer der Besuche können keine Angaben gemacht werden.

 

Der dritte dokumentierte Besuch fand 1964 statt: Der erste Tag seines Besuchs in seinem Geburtsort Weyer blieb für Jakob Erich Simon zeitlebens unvergesslich. 1964 verbrachte er, aus Brasilien kommend, seinen Urlaub in der Schweiz, als er sich kurz entschlossen eine Fahrkarte kaufte und mit dem Zug nach Oberbrechen fuhr. Hier stieg er aus und ging zu Fuß nach Weyer. Mit einem flauen Gefühl im Magen, wie er sich später erinnerte.

Und er hatte sich vorgenommen: „Wenn mich jemand schief anschaut, kehre ich sofort um.“ Unterwegs nahm ihn ein Autofahrer mit und ließ ihn in Weyer aussteigen. Von dem, was sich dann aber tat, wurde Simon überwältigt:

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner Ankunft in Weyer, alles lief zusammen, begrüßte ihn und wollte wissen, wie es ihm seit 1939 gegangen sei. So brauchte er von der Stelle, an der er ausgestiegen war, bis zum „Deutschen Haus“ drei Stunden. Simon fühlte sich wieder daheim, kannte sich sofort wieder aus und hatte auch den heimischen Dialekt nicht verlernt. Es überrascht nicht, dass er nach diesem überwältigenden Empfang schon zwei Jahre später wieder nach Weyer kam, das dritte Mal im Jahre 1981.

 

Die weiteren Beziehungen zwischen Simon und Weyer gestalteten sich sehr eng: Simon wurde wieder Mitglied des RSV Weyer und später auch Ehrenmitglied. Auch nach 1981 reiste das Ehepaar Simon nach Weyer, verbrachte hier jeweils mehrere Wochen und besuchte dabei auch Weilburg. Die letzte Reise nach Deutschland fand im Jahr 2000 statt. Aber es kam auch zu Besuchen in „umgekehrter Richtung“: Freunde aus Weyer waren zu Gast bei den Eheleuten Simon in Brasilien.

 

Es war Simons Wunsch, in Weyer beerdigt zu werden. Zwar konnte dieser Wunsch nicht erfüllt werden, doch er spiegelt Simons enge Beziehung zu seinem Geburtsort Weyer und darüber hinaus zu Deutschland. Schon 1988 hatte er in einem Brief bekannt: „Ich war immer ein guter Deutscher, liebe Deutschland noch heute, trotz all diesem Erlebten.