Skip to main content Skip to page footer

Familie Jessel

Louis und Flora Jessel, Geschwister aus Weilburg, erlebten nach dem Konkurs ihres Textilgeschäfts schwere Zeiten. Sie zogen nach Bad Ems zu ihrer Schwester Jenni, deren Mann 1933 verstarb. Durch gesellschaftliche Ausgrenzung und wirtschaftliche Probleme waren ihre Lebensumstände stark beeinträchtigt. Während des Krieges wurden sie nach Tagschacht deportiert und später nach Theresienstadt, wo Flora 1943 und Louis 1944 starben. Ihr Bruder Berthold, ein angesehener Kaufmann, ging nach Frankreich, konnte jedoch nicht Fuß fassen. Nachdem er seine Frau und ihren Rückhalt verloren hatte, beging er 1936 Selbstmord in Wiesbaden.

Berthold Jessel

Berthold Jessel wurde am 7. Juli 1882 in Weilburg als Sohn des Kaufmanns Joseph Carl Jessel geboren, der aus Weilmünster stammte und in erster Ehe mit der aus Dotzheim gebürtigen Bertha Kallmann verheiratet war. Das Ehepaar Jessel zog Anfang der sechziger Jahre nach Weilburg. Hier kam 1863 als erste Tochter Elise zur Welt, der ein Jahr später Clothilde folgte. Ende November 1864 verstarb Bertha. Joseph Carl heiratete 1870 Rosine Geisenheimer aus Bingen. In dieser zweiten Ehe wurden Joseph Carl noch sechs Kinder geboren: Hedwig (1871), Louis (1873), Hermann (1875), Jenni (1879), Berthold (1882) und Flora (1883).

         Hedwig und Jenni heirateten und zogen nach Mannheim bzw. Bad Ems. Hermann verstarb 1903 im Alter von 27 Jahren, Louis kehrte nach mehrjährigem Aufenthalt in Frankfurt/Main und Hamburg noch vor dem Ersten Weltkrieg in seine Geburtsstadt Weilburg zurück. Nachdem das Familienoberhaupt Joseph Carl bereits im Jahre 1893 gestorben war, ging die Leitung des Geschäfts vermutlich zunächst an die Witwe Rosine über. Noch vor dem Ersten Weltkrieg übernahmen Berthold, Louis und Flora die Leitung des elterlichen Textilgeschäftes in der Mauerstraße 4, das für seine große Kleidersammlung bekannt war und schon vor dem Ersten Weltkrieg einen guten Namen mit einem bekannten Signum – JCJ – hatte.

         Berthold war nicht nur ein angesehener Kaufmann, sondern stand auch schon früh und gern im öffentlichen Leben: So gehörte er 1905 zu den Mitbegründern des Weilburger Rudervereins, auch an der Gründung des Weilburger Kur- und Verkehrsvereins war er beteiligt, 1932 wählte ihn die Mitgliederversammlung zum Vorsitzenden. 1913 stand er an der Spitze der Ortsgruppe Weilburg der Fortschrittlichen Volkspartei. Nach dem Ersten Weltkrieg war er innerhalb der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) aktiv, er war 1918 an der Gründung der Ortsgruppe Weilburg beteiligt und kandidierte 1924 auf Platz 7 des Wahlvorschlags „Demokratie“ für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung.

Im Ersten Weltkrieg wurde er eingezogen. Er gehörte zur kleinen Gruppe der „jüdischen Luftschiffer“, bekleidete den Rang eines Leutnants und wurde mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Er war in Lille (Nordfrankreich) stationiert. Hier lernte er Luetitia Eggermont kennen, eine sehr attraktive, wesentlich jüngere Frau, die er 1922 in Weilburg heiratete. Jessels Nichte, Edith Dietz, berichtete 2009, in der Familie Jessel habe es Bedenken gegen die Heirat gegeben. Zwar seien die Jessels, wie die meisten Weilburger Juden, nicht streng religiös gewesen, sondern weltoffen und liberal. Aber Luetitia war keine Jüdin, sondern war römisch-katholischer Konfession. Doch Jessel setzte sich über diese Vorbehalte hinweg. Über Jessels Lebensstil waren im Weilburg der zwanziger Jahre denkwürdige Gerüchte im Umlauf. Seiner Nichte war noch erinnerlich, dass ihr Onkel Liebhaber von teuren Autos gewesen sei. Er habe keinen Führerschein gehabt und sich von einem Chauffeur in Uniform fahren lassen. Er habe Autos der damaligen Luxusmarken Horch und Maybach besessen.

 

In bemerkenswertem Gegensatz

Zu diesem märchenhaften Image steht die nüchterne Tatsache, dass die Firma Jessel bereits zum Ende des Jahres 1933 in Konkurs ging und das Haus in der Hindenburgstraße (Mauerstraße) der Zwangsversteigerung verfiel. Zwar hatte auch das Geschäft Jessel ab 1933 unter dem zunehmenden Kundenboykott zu leiden, doch es erscheint ausgeschlossen, dass der Boykott die Hauptursache für den Konkurs war. Der frühe geschäftliche Zusammenbruch deutet vielmehr darauf hin, dass sich die Firma Jessel bereits seit Jahren in einer schwierigen Lage befunden haben musste, die durch den Boykott zusätzlich verschärft wurde. Hinter der glänzenden Fassade des Geschäfts und einem imponierenden Lebensstil verbargen sich offensichtlich schon seit längerem erhebliche wirtschaftliche Probleme. Jessels Nichte stellte hierzu sachlich fest, ihr Onkel habe „auf großem Fuß gelebt und sich übernommen“.

Begleitet wurde dieser wirtschaftliche Absturz von einer jähen sozialen und gesellschaftlichen Ausgrenzung, die Jessel vermutlich ebenfalls sehr getroffen hat. So wurde er 1933 als Vorsitzender des Weilburger Kur- und Verkehrsvereins abgelöst, im gleichen Jahr musste er auch aus dem Vorstand des Weilburger Rudervereins ausscheiden. Das Hotel „Traube“, seinerzeit das renommierteste Weilburger Lokal und in Sichtweite des Hauses Jessel gelegen, erteilte ihm, seinem Bruder Louis und seiner Schwester Flora schon 1933 Hausverbot, obwohl die Geschwister über viele Jahre Stammgäste gewesen waren und mit dem Eigentümer des Hotels freundschaftlich verbunden waren. 1922 war der Hotelier einer der Trauzeugen bei Jessels Trauung. Auch an der Weilburger Kirmes des Jahres 1933 dürfte Jessel schon nicht mehr teilgenommen haben.

So hielt ihn in Weilburg nichts mehr, und er entschloss sich zur Auswanderung. Am 12. Mai 1934 erfolgte der Wegzug nach Lille (Frankreich), der Heimatstadt seiner Frau Luetitia. Ob die Eheleute gemeinsam aus Weilburg wegzogen, ist ungeklärt. Jessels Nichte war sich ganz sicher: „Seine Frau ist vorher weggezogen, sie hat ihn sitzen lassen.“ Jessel hoffte auf einen Neuanfang in Frankreich, konnte hier aber nicht Fuß fassen, vermutlich war er in Lille nicht willkommen. „Luetitia hat ihm in keiner Weise geholfen“, so seine Nichte.

Die Gründe hierfür können zwar nur vermutet werden, liegen aber auf der Hand. 1934 waren die Zeiten eines aufwendigen Lebensstils für immer vorbei. Jetzt war Jessel nur noch ein armer deutscher Flüchtling, der seiner schönen und verwöhnten Frau nichts mehr bieten konnte. Es ist nicht bekannt, was in Jessel vorging, nachdem er die Ablehnung durch seine Frau und deren Familie erfahren musste. Vielleicht hat er sich bitter daran erinnert, dass sein Haus in Weilburg für die Verwandtschaft seiner Frau immer offen gestanden hatte, die hier gern und regelmäßig zu Gast gewesen war. Vielleicht hat er sich auch daran erinnert, dass die Angestellten seines Geschäfts zahllose Pakete für die Verwandten seiner Frau hatten packen müssen, denen die Geschenke aus Deutschland stets willkommen waren.

Die bedrückenden Erfahrungen in Frankreich veränderten Jessel offenbar stark. Ziellos und ohne Halt sei er immer wieder in Deutschland unterwegs gewesen, so seine Nichte. Er habe sich auch einige Male, jeweils für kurze Zeit, in Bad Ems bei seiner Schwester Jenni aufgehalten. Hier in Bad Ems waren auch sein Bruder Louis und seine Schwester Flora nach dem Konkurs in Weilburg untergekommen.

Im Juni 1936 schließlich setzte Berthold Jessel seinem ruhelos gewordenen Leben selbst ein Ende. Bei einer seiner Reisen durch Deutschland mietete er sich in Wiesbaden in die kleine Pension Violetta, Frankfurter Straße 10, ein und nahm eine Überdosis des Schlafmittels „Veronal“. In den frühen Morgenstunden des 7. Juni 1936 verstarb er. Auf dem jüdischen Friedhof Wiesbaden, Platter Straße, wurde er beerdigt.

Louis und Flora Jessel

In der zweiten Hälfte

des Jahres 1942 kam es zu den ersten Deportationen von Frankfurt nach Theresienstadt. Bei der zweiten dieser Deportationen, am 1. September 1942, wurden folgende Personengruppen aus Frankfurt, Wiesbaden und Landkreisen des Regierungsbezirks Wiesbaden deportiert: über 65-Jährige, Gebrechliche über 55 Jahre sowie Versehrte und Träger hoher Auszeichnungen des Ersten Weltkriegs. Die Deportationsliste enthält insgesamt 1109 Namen, darunter 165 aus Landgemeinden des Regierungsbezirks Wiesbaden. Unter diesen 165 Personen finden sich überraschenderweise auch zwei Weilburger Juden, nämlich die Geschwister Louis Jessel (geb. 1873 in Weilburg) und Flora Jessel (geb. 1883 in Weilburg). Wie war dies zu erklären?

Nachdem das renommierte Textilgeschäft Jessel in Weilburg Ende 1933 in Konkurs gegangen war und das Haus Hindenburgstraße (Mauerstraße) 4 der Zwangsversteigerung verfiel, trennten sich die Lebenswege der Geschwister Berthold, Louis und Flora Jessel, die viele Jahre gemeinsam die Firma Jessel geführt und repräsentiert hatten. Berthold meldete sich nach Lille ab, der Heimatstadt seiner Frau Luetitia, und versuchte, in Frankreich Fuß zu fassen, was ihm aber nicht gelang. Louis und Flora verlegten ihren Wohnsitz nach Bad Ems und zogen zu ihrer Schwester Jenni. Louis vollzog diesen Schritt bereits 1933, Flora folgte ihm im Jahr 1934. Jenni hatte 1919 Emil Königsberger geheiratet, den Inhaber des Modegeschäfts Königsberger in Bad Ems, Römerstraße Nr. 12.

Doch das gemeinsame Leben

der Geschwister in Bad Ems war von Anfang an von Schicksalsschlägen überschattet: 1933 erlag Emil Königsberger überraschend einem Herzinfarkt. Zwar konnte Louis Jessel seine Schwester Jenni anfänglich bei der Führung des Geschäfts unterstützen und beraten, doch den Niedergang der Firma, der dann mit der Schließung des Geschäfts Königsberger endete, konnte er nicht verhindern. Beim Novemberpogrom 1938 wurde das Wohnhaus der Familie Königsberger vollständig verwüstet, 1940 erlag Jenni Königsberger in einem Kölner Krankenhaus einem Krebsleiden.

Im Sommer 1941 mussten die wenigen noch in Bad Ems lebenden Juden ihre Stadt verlassen, darunter auch die Geschwister Jessel. Zusammen mit anderen Juden aus den Kreisen Unterlahn-Limburg, Rheingau-St. Goarshausen und Westerwald mussten sie nach Tagschacht ziehen und in Friedrichssegen Zwangsarbeit verrichten.

Tagschacht, in der Nähe von Bad Ems gelegen, war eine ehemalige Bergarbeitersiedlung, die bereits 1913 aufgegeben worden war, nachdem der Erzabbau dort unrentabel geworden war. Danach bezogen ärmere Familien die Siedlung, deren Häuser nur wenig Komfort aufwiesen: So besaßen sie kein fließendes Wasser, die Toiletten befanden sich außerhalb der Häuser. 1938 wurde die gesamte Siedlung geräumt, nachdem einige Häuser baufällig geworden waren. In diese vollständig heruntergekommenen Häuser mit primitivsten Wohnverhältnissen wurden nun 1941 die Juden einquartiert. Morgens mussten sie zu Fuß zur Zwangsarbeit ins benachbarte Friedrichssegen gehen und abends wieder zurück nach Tagschacht, dabei hatten sie den gelben Judenstern zu tragen. Die Männer leisteten Zwangsarbeit im Eisenlager und im Verschrottungswerk, die Frauen wurden im Tonwerk eingesetzt.

Die letzten 23 Häftlinge,

unter denen sich auch Louis und Flora Jessel befanden, wurden am 28. August 1942, nachmittags, über die Bahnstation Friedrichssegen nach Frankfurt abtransportiert. Sie mussten zunächst auf dem Bahnsteig auf den Zug warten, SS-Leute waren zugegen. Als dann endlich der Zug kam, wurden die Häftlinge mit Faust- und Gewehrkolbenschlägen in die Abteile gestoßen. Einwohner aus Friedrichssegen, meist Frauen und Kinder, schauten dem Abtransport zu, einige klatschten vor Freude in die Hände und schrien: „Bravo!“ Als Sammellager für die Deportationen nach Theresienstadt diente in Frankfurt nicht mehr die Großmarkthalle, sondern das geräumige Altersheim im Rechneigraben 18 – 20. Lastautos brachten die Menschen von hier zum Ostflügel der Großmarkthalle und zu dem dahinter liegenden Gleis 40, von dem der Zug nach Theresienstadt abfuhr. Lt. ITS Bad Arolsen starb Flora Jessel am 22. März 1943 in Theresienstadt und ihr Bruder Louis am 15. Juli 1944, ebenfalls in Theresienstadt.

Das Museum Bad Ems

verwahrt heute außergewöhnliche Dokumente aus der NS-Zeit, die die Erinnerung an Louis Jessel bewahren: Jessel schrieb in Theresienstadt viele Postkarten und kurze Briefe, die alle an die Familie von Moritz Jessel in Wetzlar gerichtet waren. Moritz Jessel, 1882 in Weilburg geboren, war ein Vetter von Louis Jessel und mit einer Christin verheiratet. Es ist unbekannt, wie diese ungewöhnliche postalische Verbindung zwischen Louis Jessel und seinen Wetzlarer Verwandten zustande gekommen ist. Der gesamte Briefwechsel unterlag einer strikten Kontrolle durch die Gestapo. In Jessels kurzen Texten finden sich deshalb keine persönlichen Anmerkungen, sondern nur sehr allgemein gehaltene Mitteilungen.

Heimmarsch von der Weilburger Kirmes 1932. In der Mitte, hinter der Ehrenscheibe, der Schützenkönig Fritz Heiß. Rechts neben ihm, mit Zylinder, Berthold Jessel. Jessel trägt am Revers das EK I aus dem Ersten Weltkrieg.

                                                                                                                                 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                  

Berthold Jessel war gerne Gast bei Weilburger Festivitäten. Das Foto zeigt eine Szene in der Niedergasse: Heimmarsch von der Weilburger Kirmes 1932. Inmitten der beschwingten „Heimkehrer" Berthold Jessel (mit Zylinder und dem EK I).

Gruppenaufnahme in Weilburg (Ende der zwanziger Jahre): Zweite von links Luetitia Jessel, ganz rechts Edith Dietz.

Diese kleine unscheinbare Grabplatte erinnert auf dem jüdischen Friedhof Wiesbaden, Platter Straße, an Berthold Jessel. Die Inschrift ist kaum noch lesbar.

Hochzeitsanzeige von Berthold und Luetitia Jessel.