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Familie Niedrée

Cilla Niedrée

Klara Cäcilie, genannt Cilla, wurde am 8. September 1899 in Weilburg als zweite Tochter der Eheleute Rosa und Siegmund Arnstein geboren, die in der Niedergasse, Haus Nr. 10, ein florierendes Textilgeschäft betrieben. Sie besuchte die Höhere Mädchenschule Weilburg und heiratete 1924 den Weilburger Zahnarzt Dr. Hermann Niedrée. Cilla und Hermann Niedrée hatten einen Sohn mit Namen Willi.

Am 19. November 1917 war Willi geboren worden, und zwar in Köln-Mülheim. Seine Eltern – Cilla Arnstein und Hermann Niedrée (damals noch Gymnasiast) – waren zum Zeitpunkt seiner Geburt gerade 18 Jahre alt. Cillas Schwangerschaft und Willis Geburt wurden vor der Weilburger Bevölkerung strikt verborgen, denn ihre Entdeckung wäre ein gesellschaftlicher Skandal gewesen. Cilla verzog deshalb schon frühzeitig während ihrer Schwangerschaft nach Köln-Mülheim, um hier, weit entfernt von Weilburg und unbemerkt von den Weilburgern, ihr Kind zur Welt zu bringen. Vermutlich lebten in Köln-Mülheim Freunde oder Verwandte der Familie Arnstein, die Cilla in ihre Obhut nehmen konnten. Cilla bezog eine Wohnung in Köln-Mülheim und brachte ihr Kind in der Wohnung ihrer Hebamme zur Welt. Diese zeigte die Geburt beim Standesamt Köln-Mülheim an, in dessen Register das neugeborene Kind unter dem Namen Willi Arnstein eingetragen wurde.

Zu einem unbekannten Zeitpunkt kehrte Cilla wieder nach Weilburg zurück. Sie kam ohne Willi, der weiter in Köln bzw. in der Umgebung von Köln verblieb. Als Pflegeeltern des unehelichen Willi wurde ein kinderloses Arbeiterehepaar in Erftstadt-Kierdorf (bei Köln) bestellt, hier in Kierdorf wuchs Willi auf und wurde 1924 in die Volksschule von Kierdorf eingeschult.

Auch während dieser Jahre blieb seine Existenz vor der Weilburger Bevölkerung verborgen. Wie Cilla und Hermann Kontakt mit den Pflegeeltern hielten und wann Willi erfuhr, wer seine leiblichen Eltern waren, ist unbekannt.

Cilla und Hermann heirateten am 24. Dezember 1924 vor dem Standesamt Weilburg und bezogen das Haus Neugasse 10, das ebenfalls Siegmund Arnstein gehörte. Hier richtete Hermann, der inzwischen sein Zahnarztstudium an der Universität Marburg mit der Promotion abgeschlossen hatte, eine gut gehende Zahnarztpraxis ein. Bald nach seiner Heirat (1925) erkannte Hermann Willi als seinen Sohn an, ein entsprechender Eintrag findet sich im Standesamtsregister von Köln-Mülheim. Willi erhielt damit den Familiennamen Niedrée, er verblieb aber zunächst weiter bei seiner Pflegefamilie in Erftstadt-Kierdorf. Erst zu Ostern 1929 kam er nach Weilburg, trat in die Höhere Landwirtschaftsschule Weilburg ein und wurde Schüler der Klasse 5 (Sexta), als seine Religionszugehörigkeit wurde „evangelisch“ eingetragen. Ab jetzt erst lebten die Niedrées als Familie zusammen. Die Spuren von Willis unehelicher Geburt waren perfekt verwischt, und den Weilburgern von damals blieben all diese Zusammenhänge vollständig verborgen.

 

Die Erwartungen seiner Eltern nach schulischem Erfolg konnte Willi nicht erfüllen: Bereits im Januar 1930 verließ er die Höhere Landwirtschaftsschule Weilburg und wechselte zum Institut Garnier in Friedrichsdorf (Taunus) über, einer Internatsschule für wohlhabende Bürgersöhne. Aber auch hier war ihm Misserfolg beschieden: Am 5. April 1932 verließ er das Institut Garnier mit einem Abgangszeugnis der Klasse 7 (Quarta).

Das Leben und das Schicksal der Familie, insbesondere das von Cilla und später auch das von Willi, wurden ab 1933 entscheidend von den politischen Veränderungen in Deutschland bestimmt. Nach der NS-Sprachregelung war die Ehe zwischen Hermann („Arier“) und Cilla („Jüdin“) eine „Mischehe“, und der gemeinsame Sohn Willi war ein „Halbjude“. Die Zahnarztpraxis von Hermann Niedrée wurde auch nach 1933, wie in den Jahren zuvor, gut frequentiert, nennenswerte finanzielle Einbußen musste Niedrée offensichtlich nicht hinnehmen. Ob das Ehepaar Niedrée auch nach 1933 seine regen Kontakte zu Freunden, Bekannten und Nachbarn weiterhin wie bisher pflegen konnte, erscheint dagegen fraglich, ist aber heute nicht mehr feststellbar.

Nachdem Willi zu Ostern 1932 seine Schullaufbahn beendet hatte und im März 1932 in Friedrichsdorf 1932 in konfirmiert worden war, begann er im Juni 1933 in einer Bad Nauheimer Bäckerei und Konditorei mit einer Lehre, die er im März 1934 abbrach. Alte Weilburger konnten sich vor vielen Jahren noch daran erinnern, dass er auch einmal als Lehrling in einer Weilburger Gärtnerei gearbeitet hatte. Ob er seine Lehrzeit erfolgreich abschloss, ist nicht bekannt, erscheint aber sehr fraglich. Ab 1935 lebte er wohl wieder im Haus seiner Eltern. Im Jahre 1938 verliebte er sich in die ein Jahr jüngere Johanna Erdmann, genannt Hanni, die im Hotel „Traube“ (Neugasse 2) als Zimmermädchen beschäftigt war. Johanna wurde schwanger und brachte am 7. März 1939 in Kassel, wo ihre Eltern wohnten, ein Mädchen zur Welt, das auf den Namen Ingrid getauft wurde.

Trotz seines Status als „Halbjude“ musste Willi Wehrdienst ableisten. Im November 1938 meldete er sich in Weilburg ab und begann seinen Wehrdienst in der Niederlahnsteiner Bruchmüller-Kaserne, beim Artillerieregiment 70, II. Abteilung.

Die Ehe zwischen Cilla und Hermann Niedrée wurde im August 1939 vor dem Landgericht Limburg geschieden. Parallel zu ihrer Ehescheidung betrieb Cilla ihre Auswanderung aus Deutschland. Im Juli 1939 beantragte sie einen Reisepass, um nach England auswandern zu können. Das Regierungspräsidium Wiesbaden entsprach ihrem Antrag im August 1939 und stellte einen Reisepass aus, auch die Mitnahme des Umzugsgutes war bereits genehmigt. Da brach am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg aus, eine Auswanderung nach England wurde dadurch unmöglich. Noch aber durften Juden aus Deutschland auswandern, das Tor für eine Auswanderung nach Amerika stand noch offen. Aber die Schiffspassage hierfür hätte in Devisen bezahlt werden müssen, Devisen besaß Cilla aber nicht. So blieb sie in Deutschland und zog im März 1940, als die letzten Juden Weilburg verließen, nach Frankfurt am Main.

In Frankfurt wurde Cilla im Haus Bäckerweg 60 einquartiert, zusammen mit anderen Weilburger Juden. Auch ihr Sohn Willi bezog dort Wohnung. Wann er nach Frankfurt zu seiner Mutter zog, ist unbekannt. Wahrscheinlich im Januar 1941, unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht. In Frankfurt arbeitete er zeitweilig als Hilfsarbeiter.

Hier in Frankfurt begann sich die Lage der Juden dramatisch zu verändern. Bereits im Herbst 1941 wurden die ersten Juden nach dem Osten Europas deportiert, auch Bewohner des Hauses Bäckerweg 60 gehörten zu den ersten Opfern. Wegen ihres Status als geschiedene Ehefrau aus einer „Mischehe“ blieb Cilla zunächst verschont. Hilflos musste sie aber miterleben, wie am 22. November 1941 die Eheleute Falk mit Tochter Ilse Simon – ihre Nachbarn in Weilburg und ihre Mitbewohner im Haus Bäckerweg 60 – nach Kowno deportiert wurden; am 24. Mai 1942 wurde auch Cäcilie Forst aus dem Haus Bäckerweg 60 deportiert, am 23. Juni 1942 folgten Cillas Schwester Frieda Wallach und deren Tochter Irene. (Bereits im Juni 1940 war ihr Schwager Adolf Wallach verstorben, und im September 1942 wurde ihre Mutter Rosa Arnstein von Mainz nach Theresienstadt deportiert.)

Obwohl ihr als Jüdin das zeitweilige Verlassen des Wohnorts strengstens verboten war, fuhr Cilla mit ihrem Sohn Willi mehrmals mit dem Zug von Frankfurt nach Kassel, um die kleine Ingrid und deren Mutter zu besuchen. Bei ihren Fahrten nach Kassel trug sie immer einen Mantel mit Pelzkragen, unter dem der gelbe Judenstern verborgen war.

 

Nach Abschluss der großen Deportationen im September 1942 setzte Gauleiter Sprenger alles daran, die wenigen noch in Frankfurt lebenden Juden in Einzelaktionen deportieren zu lassen. Diese Gefangenentransporte gingen in der Regel vom Frankfurter Hauptbahnhof aus. So wurden Sonderwagen an reguläre Züge angehängt oder Sonderabteile in den Zügen selbst belegt. Cilla galt mittlerweile wieder als „Volljüdin“ und war damit vollkommen schutzlos. Der Zugriff der Gestapo auf sie konnte jederzeit erfolgen. Mehrmals erklärte Cilla vor Freunden, sie werde in kein Lager gehen. Eher werde sie Selbstmord begehen, sie habe immer eine Dosis Gift bei sich. Ihr Ex-Ehemann Hermann hatte ihr das Gift besorgt, das er von einem Weilburger Apotheker erhalten hatte. (Wie oft mögen Cilla und Willi über dieses Thema gesprochen haben?) A m 29. April 1943 machte Cilla ihre Ankündigung wahr und beging Selbstmord, nachdem sie erfahren hatte, dass sie für die nächste Deportation vorgesehen war. Möglicherweise wurde ihr dies bei einem Termin auf der Dienststelle der Gestapo nur mündlich mitgeteilt. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof Frankfurt an der Eckenheimer Landstraße 238 beerdigt. War Willi beim Selbstmord seiner Mutter zugegen, oder hat er sie tot aufgefunden? Niemand weiß es. Ein Jahr später geriet auch Willi aus unbekannten Gründen in das Räderwerk der Gestapo. Im Spätherbst 1944 wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Er überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Frankfurt zurück, hier wurde er im August 1948 Opfer eines Gewaltverbrechens.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kontakte mit Nachfahren jüdischer Weilburger: INGRID LYNN

Am 25. September 2008 erreichte mich ein Anruf von Karltheo Niedrée (Weilburg), der mir mitteilte, dass bei ihm ganz überraschend Ingrid Lynn aus den USA zu Gast sei, die Enkelin Cilla Niedrées, die Tochter Willi Niedrées. Ingrid sei, so Niedrée, mit ihrem Lebenspartner Dale Dinkel auf einer Deutschland-Reise und habe bei ihm Station gemacht. (Karltheo Niedrée war ein Vetter von Willi Niedrée.) Er lud mich in sein Haus ein.

Noch am gleichen Vormittag fand ich mich im Hause Niedrée ein, und zum ersten Mal begegnete ich der damals fast siebzigjährigen Ingrid Lynn, von der ich bis dahin nur den Namen kannte. Sie berichtete in fließendem Deutsch über ihr Leben in Deutschland und in den USA: dass sie zusammen mit ihrer Mutter Johanna noch während des Krieges von Kassel nach Bad Hersfeld evakuiert worden war und auch nach dem Krieg dort wohnen blieb. Hier in Bad Hersfeld lernte Ingrid den amerikanischen Soldaten Lynn kennen, heiratete ihn mit 17 Jahren und wanderte bereits 1958 mit ihm in die USA aus.

Auch ihre Mutter heiratete in Bad Hersfeld einen Amerikaner und wanderte mit diesem ebenfalls in die USA aus. Sie wohne, so Ingrid, seit vielen Jahren in Colorado Springs, habe drei erwachsene Kinder und sei durch die Rente ihres mittlerweile verstorbenen Mannes gut versorgt. Ihre Mutter sei im Jahr 2007 verstorben. Nach diesen interessanten Ausführungen und einem lebhaften Gespräch brachen Ingrid und Dale bereits wieder auf, um ihren Deutschland-Trip fortzusetzen.

Weitere Weilburg-Besuche

 

 Fünf Jahre später, im Jahre 2013, besuchte Ingrid wieder Weilburg, diesmal für drei Tage. In ihrer Begleitung befanden sich ihr Lebensgefährte Dale, ihre Tochter Robin und deren Partnerin Meggie. 

Der Wunsch, noch einmal nach Weilburg zu kommen, war seit diesem letzten Besuch bei Ingrid immer stärker geworden. Und im Jahr 2017 konnte sie sich diesen lang gehegten Wunsch endlich erfüllen: Mit ihrem Lebenspartner Dale kam sie wieder nach Weilburg, die beiden mieteten sich in eine Ferien-wohnung ein und verbrachten hier schöne und unvergessliche Urlaubstage. Aber das amerikanische Paar war nicht nur wegen des Urlaubs nach Weilburg gekommen. Ingrid wollte in Weilburg auch den Spuren ihrer Familie nachgehen und sich dabei vor allem ihres Vaters erinnern. „Ich bin Amerikanerin, aber mein Interesse an Deutschland und an meinen deutschen Wurzeln ist in den letzten Jahren stetig gewachsen“, so Ingrid.

Sie bat mich, neue Nachforschungen über das Leben ihres Vaters anzustellen, insbesondere über seine ersten Lebensjahre. Sie stellte mir hierfür eine umfassende Vollmacht für alle neuen Recherchen bei Standesämtern und anderen Behörden aus. Diese Vollmacht hat mir später tatsächlich Türen geöffnet und die Erschließung neuer Fakten entscheidend befördert. 

Für das Jahr 2019 war wieder ein Besuch in Weilburg geplant: Die Ferienwohnung von 2017 war schon wieder fest gebucht und die Flugtickets von Denver nach Frankfurt/Main waren bereits bezahlt – da stürzte Ingrid unmittelbar vor dem Abflug in ihrem Haus. Sie zog sich Knochenbrüche und andere schwere Verletzungen zu, sie musste ihre Reise nach Deutschland absagen.  

Von diesem Sturz und seinen langfristigen Folgen erholte sich Ingrid nicht mehr, im Jahr 2022 verstarb sie in ihrem Haus in Colorado Springs.  

 

Joachim Warlies 

Willi Niedrée – auf den Spuren eines bewegenden Lebens

 

Von März bis Juni 2017 weilten Ingrid Lynn und ihr Lebenspartner Dale Dinkel aus Colorado Springs im US-Bundesstaat Colorado in Weilburg. Für Ingrid Lynn war es ein besonderer Urlaub, denn ihre Lebensgeschichte ist eng mit Weilburg verbunden: Ihre jüdische Großmutter Cilla Niedrée wurde in Weilburg geboren, und ihr Vater war Willi Niedrée, Sohn einer angesehenen Weilburger Familie. 

In den zurückliegenden Jahren konnte ich bereits Vieles über Willi Niedrées verschollenes Leben zu Tage fördern und an seine Tochter weitergeben. Ingrid Lynn bat mich, noch einmal Nachforschungen zu ihrem Vater anzustellen, insbesondere zu seiner kaum bekannten Kindheit. Sie erteilte mir eine umfassende Handlungsvollmacht für meine Anfragen bei allen deutschen Dienststellen.  

Meine neuerlichen Recherchen erbrachten tatsächlich einige neue Erkenntnisse, ich erfuhr von bislang unbekannten Dokumenten und stieß auf neue Fotos. Zwar bleiben auch jetzt noch einige Lücken, doch ist es jetzt erstmals möglich, Willi Niedrées gesamtes Leben in groben Zügen nachzuzeichnen. Es war ein bewegendes Leben, das in Weilburg begann und in Frankfurt/Main endete, und über das seine Tochter wie folgt urteilte: „Ein Leben wie im Film.“ Dieses Leben begann vor über hundert Jahren.

 

Geburt in Köln-Mülheim 

Als uneheliches Kind, als Willi Arnstein, wurde er am 19.11.1917 in Köln-Mülheim geboren. Seine Eltern waren Cäcilie Klara Arnstein, genannt Cilla, und der Gymnasiast Hermann August Niedrée, beide im Jahre 1899 in Weilburg geboren. Cilla war die zweite Tochter der jüdischen Eheleute Siegmund und Rosa Arnstein, die in der Niedergasse, Haus Nr. 10, ein florierendes Textilgeschäft betrieben. Vermutlich war Cilla schon frühzeitig während ihrer Schwangerschaft nach Köln-Mülheim verzogen, um hier, weit entfernt von Weilburg und unbemerkt von den Weilburgern, ihr Kind auszutragen und zur Welt zu bringen. Denn ein uneheliches Kind in der Familie Arnstein wäre damals ein gesellschaftlicher Skandal gewesen.  

Warum die Eltern Arnstein Köln-Mülheim als vorübergehenden Aufenthaltsort für ihre Tochter auswählten, ist nicht bekannt. Vermutlich lebten dort Freunde oder Verwandte der Familie, die die noch minderjährige Cilla in ihre Obhut nehmen konnten. Cilla bezog eine Wohnung in Köln-Mülheim und brachte ihr Kind in der Wohnung ihrer Hebamme zur Welt. Diese zeigte die Geburt beim Standesamt Köln-Mülheim an, in dessen Register das neugeborene Kind als Willi Arnstein eingetragen wurde. 

Zu einem unbekannten Zeitpunkt kehrte Cilla wieder nach Weilburg zurück und spielte hier wieder ihre Rolle als schöne und ledige Tochter der Familie Arnstein. Sie kam ohne Willi, der weiter in Köln bzw. in der Umgebung von Köln verblieb. Da Willi als uneheliches Kind einer minderjährigen Mutter geboren wurde, entschied das Vormundschaftsgericht Köln über Willis weiteren Lebensweg. Der Arbeiter Wilhelm Eschweiler und seine Ehefrau Maria wurden zu Willis Pflegeeltern bestellt, die Eheleute Eschweiler wohnten in Erftstadt-Kierdorf (bei Köln) und hatten keine Kinder. Erst 1927 wurde ihnen ein Sohn geboren. 

Hier in Kierdorf wuchs Willi auf, und im April 1924 wurde er in die Volksschule Kierdorf eingeschult, und zwar unter dem Namen seines Pflegevaters, Wilhelm Eschweiler. 

Auch während dieser Jahre wurde seine Existenz vor der Weilburger Bevölkerung sorgfältig verborgen. Wie Cilla und Hermann mit den Pflegeeltern Eschweiler Kontakt hielten, ist unbekannt. Wann Willi erfuhr, wer seine leiblichen Eltern waren, und wie ihm dieser Sachverhalt „erklärt“ wurde, ist ebenso unbekannt. 

Cilla und Hermann heirateten am 24.12.1924 vor dem Standesamt Weilburg und bezogen das Haus Neugasse 10, das ebenfalls Siegmund Arnstein gehörte. Hier richtete der mittlerweile promovierte Hermann Niedrée eine gut gehende Zahnarztpraxis ein. Bald nach der Heirat (1925) erkannte Hermann Niedrée Willi als seinen Sohn an, ein entsprechender Eintrag findet sich im Standesamtsregister von Köln-Mülheim. Willi erhielt damit den Familiennamen Niedrée, er verblieb aber weiter bei seiner Pflegefamilie Eschweiler in Erftstadt-Kierdorf.

Schullaufbahn 

Der genaue Zeitpunkt seiner Ankunft in Weilburg ist unbekannt, doch dürfte er um Ostern 1929 nach Weilburg gezogen sein. Denn nach Ostern 1929 trat er in die Höhere Landwirtschaftsschule Weilburg ein, er wurde Schüler der Klasse 5 (Sexta), als seine Religionszugehörigkeit wurde „evangelisch“ eingetragen. Ab jetzt erst lebten die Niedrées als Familie zusammen. Die Spuren von Willis unehelicher Geburt waren perfekt verwischt, und den Weilburgern von damals blieben all diese Zusammenhänge vollständig verborgen. 

Anscheinend war Willi in der Höheren Landwirtschaftsschule kein erfolgreicher Schüler, denn schon im Januar 1930, kurz vor Ende des Schuljahres, meldete sein Vater ihn dort ab. Ab dem 07.01.1930 besuchte Willi das Institut Garnier in Friedrichsdorf (Taunus), eine Internatsschule für wohlhabende Bürgersöhne, die zur Mittleren Reife führte. Auch hier wurde er als evangelischer Schüler geführt. In Friedrichsdorf verblieb Willi mehr als zwei Jahre und wurde hier auch am 20. März 1932 konfirmiert. (Wann und wo Willi getauft wurde, ist unbekannt.) 

Die Erwartungen seiner Eltern nach schulischem Erfolg konnte Willi aber auch in Friedrichsdorf nicht erfüllen. Nur wenige Tage nach der Konfirmation, am 5. April 1932, verließ Willi das Institut Garnier mit einem Abgangszeugnis der Klasse 7 (Quarta). 

Möglicherweise hat er danach noch die Volksschule in Odersbach besucht. Ein alter Odersbacher Bürger berichtete mir vor Jahren und war sich dabei ganz sicher: Willi sei immer an seinem Haus vorbei zur Odersbacher Schule gegangen. Lehrer Lillinger, der damals an der Schule in Odersbach unterrichtete, sei mit Hermann Niedrée befreundet gewesen. Wenn die Erinnerung des alten Odersbacher Bürgers zutrifft, wurde Willi zu Ostern 1933 aus der Volksschule Odersbach entlassen.

Unruhiges Leben 

Auch in den Jahren ab 1933 führte Willi ein unruhiges Leben. Auf seiner Karteikarte beim Einwohnermeldeamt Weilburg ist vermerkt, dass er zwischen 1933 und 1935 nicht nur in Weilburg wohnte, sondern auch mehrfach den Wohnsitz wechselte. Witzenhausen, Bad Nauheim und Mengerskirchen sind als Wohnsitze eingetragen. Warum er in Witzenhausen und Mengerskirchen jeweils für einige Monate wohnte, ist bis heute ungeklärt. In Bad Nauheim, wo er von Juni 1933 bis März 1934 gemeldet war, begann er offensichtlich in der Bäckerei und Konditorei Meier eine Lehre, die er dann aber abbrach. Ab März 1935 lebte er wohl wieder ständig zu Hause bei seinen Eltern. Älteste Weilburger konnten sich noch daran erinnern, dass er bei der Gärtnerei Jacobs (Odersbacher Weg) als Lehrling beschäftigt war, auch bei einer Gärtnerei in Wetzlar arbeitete er vorübergehend. Ob er die Lehre mit einer Prüfung abschloss, ist nicht bekannt, erscheint aber zweifelhaft.  

Die politischen Veränderungen in Deutschland ab 1933 scheinen ihn kaum berührt zu haben. Offensichtlich hatte er kaum Vorbehalte gegenüber dem NS-Staat, denn er versuchte, Mitglied der NS-Jugendorganisation „Jungvolk“ zu werden, was ihm aber verwehrt wurde. 

Ab 1935 galt Willi nach den Nürnberger Gesetzen als „Halbjude“ bzw. „Mischling 1. Grades“, und die Ehe zwischen seinem Vater Hermann („Arier“) und seiner Mutter Cilla („Volljüdin“) war nach der NS-Sprachregelung eine „Mischehe“. 

Im Jahre 1938 verliebte er sich in die ein Jahr jüngere Johanna Erdmann, genannt Hanni, die im Hotel „Traube“ (Neugasse 2) beschäftigt war. Johanna wurde schwanger und brachte am 7. März 1939 in Kassel, wo ihre Eltern wohnten, ein Mädchen zur Welt, das auf den Namen Ingrid getauft wurde. 

 

Soldat der Wehrmacht 

Auch als so genannter „Halbjude“ unterlag Willi der Wehrpflicht: Im November 1938 meldete er sich in Weilburg ab und begann seinen Wehrdienst in der Niederlahnsteiner Bruchmüller-Kaserne, beim Artillerieregiment 70, II. Abteilung. Seine Einheit war im Zweiten Weltkrieg ab September 1939 in der Saarpfalz und später in Lothringen stationiert und wurde im September 1940 nach Polen (Generalgouvernement) verlegt. (Da das Generalgouvernement als zentrales Ghetto für die polnischen Juden diente, muss angenommen werden, dass Willi als deutscher Besatzungssoldat vor allem mit Juden befasst war!) Im Januar 1941 wurde er hier aus der Wehrmacht entlassen. Der Grund für die Entlassung ist in den Akten nicht vermerkt, doch kann vermutet werden, dass sein Status als „Halbjude“ der Entlassungsgrund war. Er gab als Heimatadresse Weilburg, Adolf-Hitler-Straße (Neugasse) 10, an, hier kam er jedoch nie an. Vermutlich zog er sofort nach Frankfurt/Main zu seiner Mutter Cilla, die hier seit März 1940 eine Wohnung im Haus Bäckerweg 60 hatte.  

Die Ehe seiner Eltern war 1939 von dem Landgericht Limburg geschieden worden, die Auswanderungspläne seiner Mutter, die nach England emigrieren wollte, hatten sich im letzten Moment wegen des Kriegsausbruchs zerschlagen. 

Die letzten Weilburger Juden (14), darunter auch Cilla, hatten Weilburg im März 1940 verlassen und waren alle nach Frankfurt/Main gezogen, wo sie in nahe beieinander liegenden Häusern unterkamen. Cilla bezog eine Wohnung im Hause Bäckerweg 60, in dem noch andere Juden aus Weilburg untergebracht waren: die Eheleute Adolf und Frieda Wallach (Cillas Schwester) mit Tochter Irene, das Ehepaar Max und Ida Falk mit Tochter Ilse Simon sowie Cäcilie Forst.

Deportationen 

Ab dem Herbst 1941 begann sich die Lage der Juden dramatisch zu verändern: Im Oktober 1941 wurden die ersten Frankfurter Juden nach dem Osten Europas deportiert, bis September 1942 waren fast alle Frankfurter Juden nach dem Osten verschleppt worden. Auch Bewohner des Hauses Bäckerweg 60 gehörten zu den ersten Opfern: Hilflos mussten die beiden Niedrées mit ansehen, wie am 22.11.1941 die Eheleute Falk mit Tochter Ilse nach Kowno deportiert wurden; am 24.05.1942 wurde Cäcilie Forst deportiert, am 23.06.1942 folgten Cillas Schwester Frieda Wallach mit Tochter Irene. Adolf Wallach, ein Trauzeuge von 1924, war bereits im Juni 1940 verstorben. 

Mehrmals fuhren Cilla und Willi mit dem Zug von Frankfurt nach Kassel, um die kleine Ingrid und deren Mutter Johanna zu besuchen. Bei diesen Fahrten nach Kassel, die ihr als Jüdin strengstens verboten waren, trug Cilla immer einen Mantel mit Pelzkragen, unter dem der gelbe Judenstern verborgen war. 

Nach Abschluss der großen Deportationen im September 1942 setzte Gauleiter Sprenger alles daran, die wenigen noch in Frankfurt lebenden Juden in Einzelaktionen deportieren zu lassen. Diese Gefangenentransporte gingen in der Regel vom Frankfurter Hauptbahnhof aus. So wurden Sonderwagen an reguläre Züge angehängt oder Sonderabteile in den Zügen selbst belegt. Cilla, die zunächst durch ihren Status als geschiedene Ehefrau aus einer „Mischehe“ geschützt gewesen war, galt mittlerweile wieder als „Volljüdin“ und war damit vollkommen schutzlos, wie alle anderen Juden auch. Der Zugriff der Gestapo auf sie konnte jederzeit erfolgen. 

 

Selbstmord der Mutter 

Mehrmals erklärte Cilla vor Freunden, sie werde in kein Lager gehen. Eher werde sie Selbstmord begehen, sie habe immer eine Dosis Gift bei sich. Ihr Ex-Ehemann Hermann hatte ihr das Gift besorgt, das er von einem Weilburger Apotheker erhalten hatte. (Wie oft mögen Cilla und Willi über dieses Thema gesprochen haben?) Am 29. April 1943 machte Cilla ihre Ankündigung wahr und beging Selbstmord, nachdem sie erfahren hatte, dass sie für die nächste Deportation vorgesehen war. Möglicherweise wurde ihr dies bei einem Termin auf der Dienststelle der Gestapo nur mündlich mitgeteilt. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof Frankfurt an der Eckenheimer Landstraße 238 beerdigt. 

War Willi beim Selbstmord seiner Mutter zugegen, oder hat er sie tot aufgefunden? Niemand weiß es. 

Wie lange Willi nach dem Selbstmord seiner Mutter im Hause Bäckerweg 60 wohnen blieb, ist unbekannt, weil Unterlagen fehlen. Ebenso unbekannt ist sein Alltag im Frankfurt der Kriegszeit.  

Ende März 1944 kam Willi nach fast sechsjähriger Abwesenheit für kurze Zeit nach Weilburg zurück und wohnte bei seinem Vater im Hause Neugasse 10. Schon drei Tage nach seiner Ankunft berichtete die Weilburger Polizei dem Bürgermeister über Willis Anwesenheit: Willi lungere nur herum, sein Nichtstun habe schon Aufsehen erregt. Es bestehe die Gefahr, dass er sich ein „arisches“ Mädchen „gefügig mache“. Er habe bereits 2 (!) uneheliche Kinder. Es sei deshalb dringend erforderlich, dass er umgehend einen Arbeitsplatz angewiesen bekomme und dass er „vielleicht in einem Lager“ untergebracht werde. Willi kehrte umgehend nach Frankfurt zurück. 

Polizeigefängnis Frankfurt, KZ Buchenwald und Außenlager Hadmersleben 

Hier geriet er auf einmal ins Räderwerk der Gestapo, schon am 15. Juni 1944 wurde er auf Veranlassung der Gestapo in das Polizeigefängnis Frankfurt eingeliefert. Die Gründe hierfür sind bis heute nicht restlos geklärt: Möglicherweise hatte er ein verbotenes Verhältnis mit einer „arischen“ Frau. Wie lange er inhaftiert war, ist ebenfalls unbekannt. Vielleicht verblieb er mehrere Monate im Polizeigefängnis Frankfurt, denn am 21. November 1944 wurde er als „Politischer Häftling“ in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Er erhielt die Häftlingsnummer 47399 und wurde zunächst in Block 62 untergebracht. Am 12. Dezember 1944 wurde er dann in das Außenlager Hadmersleben verlegt.  

Hadmersleben, in der Nähe von Halberstadt und Magdeburg in Sachsen–Anhalt gelegen, war eines der vielen Außenlager von Buchenwald, die der Rüstungproduktion dienten. Das Lager war im März 1944 auf dem Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik errichtet worden und bestand aus 10 Baracken für ca. 1400 Häftlinge. Diese mussten in einem stillgelegten Teil der Schachtanlage, 400 Meter unter Tage, Einzelteile des Turbinenflugzeuges „Me 262“ fertigen. Viele der Häftlinge starben auf Grund der unmenschlichen Haftbedingungen oder wurden willkürlich hingerichtet. Bei der Räumung des Lagers im April 1945 hatte das Lager 1421 Häftlinge. Diese wurden danach auf einen Todesmarsch getrieben, bei dem zahlreiche Häftlinge von den SS-Mannschaften erschossen wurden. Willi überlebte.

Nachkriegszeit in Frankfurt 

Nach Kriegsende kehrte er wieder in das kriegszerstörte Frankfurt zurück. Drei seiner damaligen Adressen sind überliefert: Moselstraße 25, Scharnhorststraße 23 (Hotel Vier Jahreszeiten) und Elbestraße 36. Er verstrickte sich in kriminelle Aktivitäten (Schwarzhandel u. ä.), wurde vor Gericht gestellt und verurteilt, saß ca. 18 Monate im Gefängnis und wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Ob er nach seiner Haftentlassung wieder Kontakt mit dem kriminellen Milieu hatte, ist unbekannt.  

Im August 1948 wurde er Opfer eines Gewaltverbrechens. Auf einer Karteikarte des Polizeipräsidiums Frankfurt sind Details des Verbrechens festgehalten: Am 12.08.1948 gegen 0.15 Uhr wurde Niedrée nach einem Besuch des Lokals „Tabaris“ im Bereich Rathenauplatz von drei Tätern in eine Schlägerei verwickelt, in deren Verlauf er durch mehrere Messerstiche in den Thoraxbereich verletzt wurde. Er verstarb am 15.08.1948, gegen 20.40 Uhr, in der Universitäts-Klinik Ffm.  

Auch die Bestrafung der Täter ist auf dieser Karteikarte festgehalten: Zwei der 1924 geborenen Täter wurden schon am 25.10.1948 durch das Mittlere US-Gericht verurteilt. Der eine Täter wurde zu 5 Jahren und der andere zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt. 

Willi wurde auf dem Hauptfriedhof Frankfurt beerdigt. Im Dezember 1948 informierte Hermann Niedrée Johanna Erdmann, die mit ihrer Tochter Ingrid in Bad Hersfeld lebte, per Brief über Willis Tod.