Die Geschichte der Familie Bravmann
Die bewegende Flucht der Bravmann-Familie aus Weilburg über Marseille nach Baltimore während des Zweiten Weltkriegs ist eine fesselnde Geschichte von Überleben und Neuanfang. Sigmund Bravmann, Religionslehrer in Weilburg, und sein Sohn Max emigrierten vor den Nazis nach Marseille. Die dramatische Überfahrt auf der überladenen "Navemar" nach New York endete glücklich, doch Max wurde kurzzeitig in einem französischen Lager festgehalten. Jahrzehnte später beantragte sein Enkel Carter Bravmann, beeindruckt von der Geschichte seiner Vorfahren, erfolgreich die deutsche Staatsbürgerschaft nach Artikel 116 des Grundgesetzes.
Zur Geschichte der Familien Bravmann
Zum 1. November 1913 trat Siegmund Bravmann, aus Unteraltertheim (Franken) gebürtig, sein Amt als Religionslehrer, Kantor und Schächter der jüdischen Gemeinde Weilburg an und bezog die Lehrerwohnung im Haus Bogengasse 2, zusammen mit Ehefrau Mathilde und Sohn Max (geb. 1912). Er war vorher in gleicher Funktion in Reichelsheim (Odenwald) tätig gewesen, wo auch Max geboren worden war.
Im Ersten Weltkrieg wurde Bravmann eingezogen und diente als Soldat im Heer des Deutschen Reiches. Nach seiner glücklichen Rückkehr aus dem Krieg nahm er seine Tätigkeit für die Gemeinde wieder auf. 1920 wurde die Tochter Bella geboren. Anfang 1922 erlag Ehefrau Mathilde ganz plötzlich einer Grippeepidemie und wurde auf dem jüdischen Friedhof Weilburg beerdigt. Noch im gleichen Jahr heiratete Bravmann Berthie Fröhlich, die aus Thüngen (Franken) stammte. 1924 wurde Sohn Ernst geboren.
Das Jahr 1933 stellte auch für die Familie Bravmann den entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens dar. Zwar bestand die Israelitische Kultusgemeinde Weilburg zunächst weiter und löste sich erst zum 31. Oktober 1938 formell auf, doch die Zahl der Gemeindemitglieder (Oktober 1932: 86) nahm ab 1933 so stark und rapide ab, dass von einem Gemeindeleben bald keine Rede mehr sein konnte. Siegmund Bravmann blieb zunächst wohl Angestellter der Gemeinde, doch es ist unbekannt, wovon die Familie ab 1933 ihren Lebensunterhalt bestritten hat. Denn es erscheint ausgeschlossen, dass die Gemeinde nach 1933 noch über nennenswerte eigene Einnahmen verfügte, von denen sie Bravmann hätte bezahlen können. Auf öffentliche Zuschüsse konnte die Gemeinde ebenfalls nicht mehr rechnen. Bravmann wurde später zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Im Jahre 1939, unmittelbar vor seiner Auswanderung, gab er an, dass sein zu versteuerndes Jahreseinkommen 1936, 1937 und 1938 jeweils 2730 RM betragen habe.
Der älteste Sohn Max verließ als Erster im Juni 1933 Weilburg, zog zunächst nach Undenheim (Rheinhessen) und wanderte später von dort nach Frankreich (Marseille) aus. Sein Bruder Ernst verließ als nächster im April 1936 seine Geburtsstadt Weilburg und zog nach Frankfurt/Main, wo er in einem Internat lebte und eine jüdische Schule besuchte. Die Tochter Bella schließlich konnte im April 1938 in die USA auswandern und kam zunächst in Baltimore als Kindermädchen unter. Am 31. Oktober 1938 zogen Siegmund und Berthie Bravmann nach Frankfurt und folgten damit ihrem Sohn Ernst und bezogen eine Wohnung im Haus Röderbergweg 38. Aber auch hier in Frankfurt kam die Familie nicht zur Ruhe, im Gegenteil. Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938 wurde Bravmann am 12. November 1938 in Frankfurt verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, dessen Häftling er bis zum 8. Dezember 1938 blieb. Die schreckliche Erfahrung der KZ-Haft war für Bravmann der entscheidende Anstoß, mit seiner Familie Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Am 22. Februar 1939 richtete er deshalb folgendes Schreiben an die Stadtverwaltung Weilburg: „Zum Zwecke der Auswanderung benötige ich eine passpolizeiliche Unbedenklichkeitsbescheinigung für mich und für meine Frau Berthie.“ Die Stadtverwaltung Weilburg hatte keine Bedenken, und schon am 25. April 1939 zog Bravmann mit Familie zu seinem Sohn Max nach Marseille, wo dieser seit 1933 lebte und mittlerweile auch verheiratet war. Ihren Hausrat ließ sich die Familie Wochen später nach Marseille nachschicken. Die Devisenstelle Frankfurt/Main erteilte die Genehmigung hierzu aber erst, nachdem Bravmann ca. 600 RM „Dego-Abgabe“ gezahlt hatte. In Marseille wurden die Bravmanns vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht und wurden umgehend in einem französischen Lager interniert – diesmal in ihrer Eigenschaft als Deutsche. Am 29. März 1940 konnten die Bravmanns aber endlich von Marseille aus Europa verlassen und kamen am 8. April in New York an, wo sie von Tochter Bella empfangen wurden.
Max verblieb mit seiner Familie in Marseille. Nachdem aber Frankreich im Zweiten Weltkrieg kapituliert hatte (Frühsommer 1940) und deutsche Truppen weite Teile Frankreichs besetzt hatten, änderte sich die Lage für Max grundlegend. Das südliche Frankreich mit der Mittelmeerküste und Marseille blieben zwar unbesetzt, doch dies konnte sich schnell ändern. Die Zukunft war also völlig ungewiss, so entschlossen sich Max und seine Frau Isabelle, eine rumänische Jüdin, ebenfalls Europa zu verlassen. Sie fuhren im Juli 1941 mit ihren beiden Kindern René und Claude mit dem Zug von Marseille zur französisch-spanischen Grenze. Denn sie wollten von Spanien aus die Überfahrt in die USA antreten. An der französisch-spanischen Grenze wurde Max aber verhaftet und in das südfranzösische Internierungslager Gurs verbracht, in dem bereits zahlreiche deutsche Juden interniert waren. Die Gründe für seine Verhaftung sind unbekannt. Nur Isabelle und René und Claude durften die Grenze passieren und gelangten per Zug über Madrid schließlich nach Sevilla, hier gingen sie an Bord eines Schiffes mit dem Namen „Navemar“.






Die „Navemar“ war ein 124 m langes Frachtschiff mit einer Kapazität von ca. 5500 Bruttoregistertonnen. Eine amerikanische Organisation, das „American Jewish Joint Distribution Committee“, hatte das Schiff gechartert, um jüdische Flüchtlinge aus Europa im letzten Moment in Sicherheit zu bringen. Es war für die Überfahrt ein wenig umgebaut worden. Ursprünglich sollte die „Navemar“ vom Atlantikhafen Cadiz ablegen, aber die Behörden in Cadiz hätten möglicherweise das Auslaufen untersagt. Denn es gab von Anfang an begründete Zweifel, ob das Schiff überhaupt für eine Überquerung des Atlantiks tauglich war. Deshalb war Sevilla ausgewählt worden. Die Behörden in Sevilla hatten nur die Frage zu prüfen, ob das Schiff flusstauglich war, nicht aber, ob das Schiff hochseetüchtig war. Das Schiff war ausgelegt für 28 Passagiere. Als das Schiff am 7. August 1941 in Sevilla ablegte, zunächst flussabwärts fuhr und dann Kurs auf Lissabon nahm, ergab sich folgende unglaubliche Situation: Das Schiff war vollkommen überladen, denn 1120 Passagiere drängten sich hier auf engstem Raum zusammen. Die wenigen Kabinen waren zu horrenden Preisen vermietet worden. Der Kapitän räumte seine Kabine und kassierte von jeder Person, die darin unterkam, 2000 Dollar. Aber auch die Matrosen beteiligten sich an diesem Geschäft und erhielten 400 bis 500 Dollar für ihre Kabinen. Frachträume, in denen vor Kurzem noch Kohle transportiert worden war, waren notdürftig als Schlafräume hergerichtet worden. Aber der Platz reichte trotzdem bei Weitem nicht, viele Flüchtlinge mussten sich deswegen während der gesamten Überfahrt, bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, auf Deck aufhalten. Die wenigen sanitären Einrichtungen waren vollkommen überlastet, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Jeder Passagier hatte zwar einen Rettungsring, aber die zwanzig Rettungsboote hätten nur 400 Passagiere aufnehmen können. Trotz aller Beschwernisse waren die Passagiere aber froh, als am 7. August 1941 die Fahrt begann, die in die Geschichtsbücher eingehen sollte.
Die „Navemar“ steuerte zunächst Lissabon an. Hier kamen Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft an Bord und verlängerten die Visa zahlreicher Flüchtlinge. In Lissabon kam auch Max Bravmann im letzten Moment an Bord. Er war fast vier Wochen in Gurs festgehalten worden, aber immerhin schafften es die französischen, spanischen und portugiesischen Behörden, ihn rechtzeitig von Gurs bis nach Lissabon zu bringen. Dies war Rettung in letzter Minute. Max‘ Name erscheint aber nicht auf der Passagierliste. Dann begann die gefährliche Überfahrt über den Atlantik: Es herrschte Krieg, im Atlantik kreuzten deutsche U-Boote, und es waren Minengürtel verlegt worden. Dann endlich, nach mehrwöchiger Fahrt und einem Zwischenstopp auf Kuba, kam die „Navemar“ am 12. September 1941 in New York an. Zahlreiche Passagiere waren während der Überfahrt an Typhus erkrankt, 6 Passagiere waren gestorben. Zu den Überlebenden gehörte auch die Familie Bravmann: die Eltern Max und Isabelle und ihre Kinder René (2 Jahre) und Claude (2 Monate). Die junge Familie reiste weiter nach Baltimore, wo bereits der andere Teil der Familie Bravmann ansässig war. In Baltimore, fernab ihrer Heimatstadt Weilburg, waren nun alle Bravmanns wieder vereint.
Kontakte mit den Nachfahren jüdischer Weilburger

Arlene Roth
Kontaktnahmen mit mir laufen oft nach dem folgenden Muster ab: Eine Email, meist aus den USA, kommt in Weilburg an, entweder im Rathaus oder beim Museum. Der noch unbekannte Absender äußert den Wunsch, mit mir Kontakt aufzunehmen. Diesem Wunsch wird immer entsprochen, und die Email wird an mich weitergeleitet.
So geschah es auch am Ende des Jahres 2016: Eine gewisse Arlene Roth aus den USA schrieb in ihrer Email, sie wolle mit mir in Verbindung treten, sie besitze zahlreiche Kopien meiner Zeitungsserien. Arlene Roth? In Weilburg hatte es keine jüdische Familie mit dem Namen Roth gegeben. Ich schrieb der unbekannten Amerikanerin, und wenige Stunden später erhielt ich eine Antwort aus Seattle und wusste mehr. Arlene Roth schrieb: „Ich bin die Tochter von Bella Roth geborene Bravmann.“
Der Name Bravmann war mir wohl bekannt: Siegmund Bravmann war der letzte Religionslehrer an der Synagoge Weilburg gewesen, er hatte mit seiner Familie im Synagogengebäude (Bogengasse 2) gewohnt. Und ich erinnerte mich an seine Tochter Bella, die 1920 in Weilburg geboren wurde und 1938 in die USA emigrierte. Denn mit Bella hatte ich seit 1990 in lockerer Verbindung gestanden, wir schrieben uns gelegentlich Briefe.
Dabei erfuhr ich auch einiges über Bellas Leben: 1943 heiratete sie einen aus Wisconsin stammenden Juden namens Roth, mit dem sie zwei Töchter hatte, Merle und Arlene. Schon früh wurde sie Witwe, ihre beiden Töchter machten Karriere: Die ältere, Merle, schrieb Buchrezensionen, unter anderem für die Los Angeles Times und das Wallstreet Journal. Die jüngere Tochter, Arlene, arbeitete bei einer PR-Firma in Seattle.

Seit Dezember 2016 stehe ich nun mit Arlene Roth in Verbindung. Meine Kontakte zu ihrer Mutter Bella waren ihr nicht bekannt gewesen, als sie Kontakt mit mir aufnahm.
Wir korrespondieren regelmäßig per Email miteinander. Arlene ist so über alle Projekte und Vorhaben der Erinnerungsarbeit in Weilburg informiert, an denen sie sachkundig und engagiert Anteil nimmt. Sie spart dabei nicht mit Lob und Anerkennung. So kommentierte sie das neue Tafel-Projekt in der Weilburger Innenstadt (2024) mit den Worten: „This is a wonderful idea … I wish more German towns and cities would follow Weilburg’s example.“
Arlene bewahrt die Erinnerung an ihre Mutter Bella, die vor einigen Jahren über neunzigjährig verstarb. Diese sei sehr liebevoll gewesen, aber auch nervös und vor allem sehr beschützend („protective“). Ihre Mutter wollte nie wieder Deutschland betreten und hatte kein Verständnis für emigrierte Juden, die Deutschland und die Stätten ihrer Jugend wieder besuchten. Arlene dagegen würde gerne einmal nach Weilburg kommen.
In ihren Emails finden sich nicht nur Bemerkungen zu Vorhaben in Weilburg, sondern auch allgemeine politische Themen. Sie beobachtet als vielbelesene Frau das Geschehen in Deutschland sehr aufmerksam. Und sie kritisiert immer wieder rassistische und antisemitische Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft, ebenso das Fehlverhalten amerikanischer Polizisten. Sie freute sich über die Niederlage Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2020, über den sie schon im September 2020 geschrieben hatte: „Ich hasse Trump und seine Kumpane. Sie lügen und betrügen, sie beleidigen unsere Soldaten und Veteranen, sie verspotten Menschen mit Behinderungen.“
Arlene Roth ist eine außergewöhnliche Zeitzeugin!
Joachim Warlies
Carter Bravmann
Im Herbst 2019 erreichte die Email eines unbekannten Absenders aus den USA Joachim Warlies: Ein gewisser Carter Bravmann, wohnhaft in Los Angeles, schrieb, er habe Warlies‘ Namen und Email-Adresse im Internet ausfindig gemacht. Er fragte an, ob Warlies ihm bei seinen Nachforschungen zur Geschichte der Bravmann-Familie behilflich sein könne.
Wie sich schnell herausstellte, ist Carter Bravmann ein Nachfahre der Bravmann-Familie aus Weilburg: Er ist ein Enkel von Max Bravmann, Sigmund Bravmann war also sein Urgroßvater, und seine Urgroßmutter Mathilde ist auf dem jüdischen Friedhof Weilburg beerdigt, wo ihr Grabstein immer noch steht.
Seit der Flucht der Familie Max Bravmann nach den USA über den Atlantik im August/September 1941 an Bord des klapprigen Frachters „Navemar“ sind viele Jahrzehnte vergangen. Von den damaligen Passagieren der „Navemar“ sind die meisten vermutlich mittlerweile verstorben. So auch Max und Isabelle Bravmann, die auf einem Friedhof in Baltimore beerdigt sind. Aber ihre kleinen Kinder von damals, René und Claude, leben noch: René in Seattle und Claude in Colorado.
So berichtete Carter Bravmann. Und der muss es wissen, denn Claude ist sein Vater und René sein Onkel! Carter, ein arrivierter und erfolgreicher Architekt in Los Angeles, hat noch zwei Brüder und eine Schwester, die alle im Südwesten der USA ihren Wohnsitz haben.
Artikel 116 des Grundgesetzes
Carter hat ein ausgeprägtes Interesse an der Geschichte seiner deutschen Vorfahren, dies hat er mit den Nachfahren anderer ausgewanderter Weilburger Juden gemeinsam. Sein starkes Interesse an der Geschichte der Bravmann-Familie hatte im Jahr 2019 aber noch einen anderen bemerkenswerten Hintergrund: Er wollte, neben seiner amerikanischen Staatsbürger-schaft, die deutsche Staatsbürgerschaft als zweite Staatsbürgerschaft erwerben.
Er bezog sich dabei auf Artikel 116 (2) des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsbürgerschaft aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.“ Carter ist ein solcher „Abkömmling“ im Sinne des Grundgesetzes.
Er begründete seinen Wunsch wie folgt: Er sei sehr stolz auf seine deutschen Vorfahren und seine Beziehung zu Deutschland. Er kenne die Geschichte Deutschlands gut, seine Architektur und Musik. Er hege keinerlei negative Gefühle gegenüber Deutschland und den Deutschen. Im Gegenteil: „I love Berlin, Hamburg and Munich and also the smaller cities.“ Mehr als zwanzig Mal hat er Deutschland in den letzten Jahren besucht, beginnend im Jahre 1985.
In seinem Antrag zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft musste Carter seine deutsche Ahnenreihe lückenlos nachweisen. Hierfür benötigte er zahlreiche Dokumente, zum Beispiel Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, Sterbeurkunden u. ä. Bei der Zusammenstellung des Antrags waren das deutsche Generalkonsulat in Los Angeles und Joachim Warlies behilflich. Der komplette Antrag wurde dann beim Bundesverwaltungsamt in Köln eingereicht, das über den Antrag wider Erwarten recht schnell entschied: Seit April 2021 ist Carter Bravmann auch deutscher Staatsbürger.
Erster Besuch in Weilburg am 10. August 2021
Seit Herbst 2019 stehe ich mit Carter Bravmann (Los Angeles), dem Urenkel von Siegmund Bravmann, in Verbindung. Ich konnte ihm bei der Verwirklichung seines großen Vorhabens, der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft, behilflich sein und freute mich mit ihm, als ihm im April 2021 die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Carters erster Besuch in Weilburg am 10. August 2021 war auch ein außergewöhnliches Ereignis für mich.
Im August 2020 musste er seinen geplanten Deutschland-Trip noch wegen der Corona-Pandemie absagen. Aber im Jahr 2021 konnte Carter wieder nach Deutschland kommen. Im August flog er von Los Angeles nach Frankfurt, wie immer mit einer Maschine der Lufthansa. Am 8. August 2021 betrat er in Frankfurt wieder deutschen Boden, zum ersten Mal als deutscher Staatsbürger. Und am 10. August besuchte er zum ersten Mal Weilburg, es wurde für ihn ein bewegender Tag.
Carter kam nicht allein. Er wurde begleitet von seinem Lebenspartner Jack („my husband“), dessen Tochter Rider sowie deren Freundin Anna. Beim Rundgang durch die Altstadt wurde der erste Halt beim Haus Bogengasse Nr. 2, dem früheren Synagogengebäude, gemacht. Hier war die Familie Siegmund Bravmann von 1913 bis 1938 zu Hause, hier wurden die Kinder Bella (1920) und Ernst (1924) geboren.
Ein weiterer Programmpunkt war der Besuch des jüdischen Friedhofs „Auf dem Dill“. Zur Erinnerung an seinen Besuch legte Carter einen kleinen Stein auf den Grabstein seiner Urgroßmutter Mathilde.
In einem sehr offenen Gespräch berichtete Carter, dass er ursprünglich sehr frei und ohne jeden Bezug zur Religion aufgewachsen sei. Erst durch den intensiven Kontakt zu seinem Onkel René habe er zu seinen jüdischen Wurzeln zurückgefunden, ohne aber ein orthodoxer Jude zu werden. Er sei stolz auf seine deutsche Staatsbürgerschaft und auf seine deutschen Vorfahren und hege keinerlei Vorbehalte gegenüber dem deutschen Volk. Wichtig sei ihm aber auch, dass die Juden dem deutschen Volk vergeben. Vergebung sei der Schlüssel zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Deutschen.

Im Juni 2023 trafen meine Frau und ich wieder mit Carter zusammen, diesmal in Berlin. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Filiz Polat, und das Ehepaar Couchmann (Großbritannien) luden zu einer Veranstaltung im Bundestagsgebäude ein, die unter dem Leitwort „Reconciliation“ (Versöhnung) stand. Teilnehmer waren vor allem Nachfahren von nach Großbritannien emigrierten Juden, einige Teilnehmer waren aus den USA angereist. Darunter auch Carter Bravmann und sein Lebenspartner Jack Koll. Der Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, wohnte der Veranstaltung ebenfalls bei.
Carter betonte, er sei stolz auf seine deutsche Abstammung. Als Amerikaner und Deutscher sei er auch stolz darauf, wie offen und ehrlich Deutschland seine Vergangenheit diskutiere, daran könnten sich die USA ein Beispiel nehmen. Als Amerikaner schäme er sich über den Mangel an Reconciliation in den USA.
Carter Bravmann plant, im Jahr 2024 Deutschland wieder zu besuchen.
Joachim Warlies